Der Totenleser
befahl der Hüter der Weisheit den Gerichtsdienern, die Maske zu lockern und die Folter zu stoppen.
»Ich ge… stehe«, keuchte Lu.
Sogleich stürzte sich der Sohn des Ermordeten auf Lu und trat auf ihn ein wie auf einen Hund. Lu stöhnte, ihm fehlte die Kraft, zu schreien oder gar sich zu rühren. Die Gerichtsdiener eilten herbei, um den Rasenden von Lu fortzuzerren, dann richteten sie Lu auf und setzten seinen Fingerabdruck unter das Schuldgeständnis.
Schließlich verkündete der Hüter der Weisheit das Urteil.
»Im Namen des allmächtigen Sohnes des Himmels erkläreich Song Lu zum geständigen Mörder des ehrenwerten Li Shang. In Anbetracht der Brutalität des Verbrechens ordne ich nach den ehrenwerten Regeln des Songxingtong den Tod Song Lus durch Enthauptung an.«
Der Hüter der Weisheit stempelte mit Rot das Urteil und beauftragte die Gerichtsdiener, den Verurteilten in den Lagerraum des Dorfvorstehers zu bringen und streng zu bewachen. Der Prozess war beendet. Ci versuchte, mit seinem Bruder zu sprechen, doch die Wachen verboten es ihm.
Als er aus dem Gebäude heraustrat, sah er seinen Vater auf allen vieren vor den Angehörigen Shangs sitzen und um Vergebung betteln, doch die Waisen schubsten ihn zur Seite wie einen Aussätzigen. Ci wollte seinem Vater aufhelfen, doch der alte Mann wehrte die Geste ab. Als er sich schließlich selbst hochgerappelt hatte, klopfte er sich den Staub aus der Kleidung und ging wortlos davon. Ci ließ sich niedergeschlagen zu Boden sinken, noch nie hatte er sich einsamer und verlassener gefühlt, begleitet nur von Bitterkeit.
Es verging eine Weile, bis Kirschblüte sich ihm vorsichtig näherte. Das Mädchen hatte sein Gesicht unter einer Kapuze verborgen, um sich für einen Augenblick von ihrer Familie zu entfernen.
»Verzweifle nicht«, flüsterte sie. »Früher oder später wird meine Familie einsehen, dass ihr anderen nicht seid wie Lu.«
»Lu hat uns entehrt«, sagte Ci.
»Auf allen Feldern gibt es Plagen. Jetzt muss ich gehen. Bete zu den Göttern für uns.« Traurig lächelnd strich sie ihm über das Haar und verschwand.
Auf eine Art, die er selbst nicht recht verstand, fühlte Ci sich seinem Bruder gegenüber schuldig. Vielleicht, weil Lu ihn in seiner Kindheit immer beschützt hatte, vielleicht, weil er trotz seiner Grobheit immer hart für die Familie gearbeitethatte. Angesichts dieser Tragödie verblassten in diesem Augenblick die unzähligen Male, die Lu ihn beschimpft und misshandelt hatte. Lu war sein älterer Bruder, und die konfuzianische Lehre lehrte, den älteren Bruder zu respektieren und ihm zu gehorchen.
* * *
Bei Sonnenaufgang regnete und gewitterte es immer noch. Es war alles wie am Tag zuvor, abgesehen von Lus Abwesenheit.
Ci hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Rasch zog er sich an und machte sich auf den Weg zu Feng. Er musste herausfinden, was mit seinem Bruder nun geschehen würde. Ob es eine Möglichkeit gab, das Urteil anzufechten?
Er traf Feng bei den Ställen an, wo er mit seinem mongolischen Diener das Gepäck für die Abreise vorbereitete. Als er Ci sah, legte er alles aus der Hand und ging auf ihn zu. Er sagte, dass sie über Land nach Nanchang reisen würden, wo sie eine der Reisschaluppen besteigen wollten, die in RichtungYangtse fuhr. Er musste in einer dringenden Mission zur nördlichen Grenze, die ihn mehrere Monate lang beschäftigen würde.
»Aber Ihr könnt uns doch nicht so zurücklassen, kurz vor der Hinrichtung meines Bruders.«
Feng legte ihm väterlich den Arm um die Schulter und erklärte ihm, dass in Fällen der Todesstrafe das Hohe Kaiserliche Gericht in Lin’an das Urteil bestätigen musste, was bedeutete, dass Lu in ein Staatsgefängnis verlegt wurde, bis das endgültige Urteil gesprochen war.
»Und das wird nicht vor dem nächsten Herbst geschehen«, schloss er.
»Das ist alles? Und was ist mit einer Anfechtung des Urteils? Wir könnten eine Wiederaufnahme des Falls fordern. Ihr seid der beste Richter und …«, bettelte Ci.
»Ehrlich gesagt, Ci, hier ist nicht mehr viel zu tun. Der Hüter der Weisheit hat in dieser Angelegenheit die volle Befugnis, und ich würde seine Ehre verletzen, wenn ich mich einmischte.«
Er reichte seinem Diener einen Packen, dann wandte er sich seufzend wieder an Ci.
»Ich kann höchstens versuchen zu empfehlen, dass man deinen Bruder nach Sichuan im Westen des Landes verlegt. Ich kenne den Vorsteher, der die Salzminen leitet, und durch ihn weiß ich, dass man dort die
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