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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Bosheit getrieben ist. Ein Mann, der durch dämonische List und faulen Zauber Strafrat Kan täuschte und den Geist des Kaisers vernebelte. Den einen brachte er dazu, ihm die Untersuchung einiger geheimnisvoller Mordfälle anzuvertrauen, dem anderen entlockte er das Versprechen eines hohen Postens in der Justiz, als Belohnung für die Aufklärung ebenjener Fälle.«
    Ci wurde nervös. Wenn Grauer Fuchs noch länger sein Gift verspritzte, würde es ihm am Ende gelingen, die Urteilsfähigkeit des Kaisers zu trüben und die Wirksamkeit seiner Verteidigung zu schmälern. Zum Glück schwieg sein Widersacher nach dieser Einführung lange genug, so dass der Würdenträger ihm, dem Angeklagten, das Wort erteilte. Langsam erhob sich Ci aus seiner Verbeugung.
    »Majestät«, begann Ci. »Grauer Fuchs beschränkt sich darauf, haltlose Anschuldigungen vorzubringen, die in keiner Weise mit den Verbrechen in Zusammenhang stehen, derer ich angeklagt bin. In dieser Verhandlung soll weder über meine akademischen Leistungen noch über meinen Charakter oder die Herkunft meiner forensischen Kenntnisse geurteilt werden.Was hier entschieden werden soll, ist, ob ich des Mordes an Strafrat Kan schuldig bin oder nicht. Anders als Grauer Fuchs behauptet, habe ich nie gelogen oder einenperfiden Plan geschmiedet, um mir einen Vorteil zu verschaffen.Wer möchte, kann überprüfen, dass ich von den Soldaten Seiner Majestät aufgegriffen und an den Hof gebracht wurde, als ich eigentlich im Begriff war, die Stadt zu verlassen. Seine Majestät war zugegen an dem Tag, als ich dazu aufgefordert wurde, an der Untersuchung einiger Morde teilzunehmen, die der Geheimhaltung unterlagen und mir bis dahin unbekannt waren. Und ich frage mich: Warum haben ein kluger Mann wie Strafrat Kan und sogar der Sohn des Himmels selbst ein so unwürdiges Wesen wie mich ausgewählt? Warum verpflichteten sie unter all den Richtern ausgerechnet einen einfachen Studenten, eine Verantwortung auf sich zu nehmen, auf die er ganz offensichtlich nicht vorbereitet war?«
    Der Kaiser sah Ci mit versteinerter Miene an. Seine ausdruckslosen Augen signalisierten, dass er über Gut und Böse stand. Eine kaum merkliche Geste seiner linken Hand bedeutete dem Beamten, er möchte Grauer Fuchs wieder zu Wort kommen lassen.
    »Majestät.« Der junge Richter verbeugte sich. »Ich werde mich auf die Tatsache beschränken, die uns beschäftigt.« Er lächelte, während er nach seinen Papieren griff. »In meinen Berichten lese ich, dass der Angeklagte kurz vor dem Tod Kans bereits ein Messer gegen einen anderen Mann erhob, gegen den Eunuchen Sanfter Delphin. Er tat es ohne Vorsicht. Er bemächtigte sich des Instruments, stieß es brutal in den Körper von Sanfter Delphin und schlitzte ihn auf.«
    »Einen Toten!«, rief Ci dazwischen. Zur Strafe bekam er einen Hieb.
    »Ja. Es handelte sich um einen toten Körper, der jedoch ebenso heilig wie ein lebendiger ist! Oder hat der Angeklagte vielleicht die konfuzianischen Maximen vergessen, dieunsere Gesellschaft regieren?« Grauer Fuchs hob die Stimme. »Nein, natürlich hat er sie nicht vergessen. Im Gegenteil! Der Angeklagte besitzt ein phänomenales Gedächtnis. Er kennt die Maximen und übertritt sie. Er weiß sehr wohl, dass der Geist eines Verstorbenen im Körper verbleibt, bis er bestattet wird, und ebenso weiß er, dass die konfuzianischen Regeln aus diesem Grund verbieten, Leichen aufzuschneiden. Das zu tun bedeutet, den Geist anzugreifen, der noch in ihnen wohnt. Und wer in der Lage ist, einem wehrlosen Geist so etwas anzutun, der ist auch in der Lage, ein Ratsmitglied des Kaisers zu töten.«
    Fassungslos folgte Ci den Ausführungen von Grauer Fuchs. Der ehemalige Kommilitone trieb ihn auf einen Abgrund mit zwei Brücken zu: Eine führte in den Tod, die andere in die Verdammnis.
    »Ich würde niemals jemanden umbringen«, stieß Ci hervor.
    »Niemals?« Grauer Fuchs lächelte triumphierend. »Dann bitte ich Eure Majestät um die Erlaubnis, einen Zeugen aufzurufen, der meine Aussage untermauern wird.«
    Der Kaiser gab dem ältesten Würdenträger einen Wink, damit er die Zeugenaussage autorisierte.
    Eskortiert von zwei Wachen betrat daraufhin ein runzliger Alter den Gerichtssaal. Der Mann schlurfte nachlässig herein, man ahnte, dass er sich die teuren Kleider, die er zur Schau trug, nur für den Anlass geliehen hatte. Ci traute seinen Augen nicht, als er Xu erkannte, den Wahrsager, für den er auf dem Großen Friedhof von Lin’an gearbeitet

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