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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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hatte.
    Grauer Fuchs ließ den Zeugen Platz nehmen, verlas seinen Namen und nahm ihm das Versprechen ab, dass alles, was er aussagen würde, der Wahrheit entspräche. Im Gegensatz zu Grauer Fuchs gelang es Xu nicht, Ci in die Augen zu sehen.
    »Bevor wir die Zeugenaussage hören«, fuhr Grauer Fuchs fort, »sehe ich mich gezwungen, die Berichte wiederzugeben, die beschreiben, wie Song Cis Leben vor seiner Ankunft in Lin’an aussah. Dazu möchte ich besonders ein Ereignis herausgreifen, das uns die Vertrautheit des Angeklagten mit dem Verbrechen aufzeigt. Vor einigen Jahren enthauptete jemand von seinem Blut, sein großer Bruder, um genau zu sein, einen Bauern in seinem Heimatdorf Jianyang. Der Angeklagte Ci, von demselben verbrecherischen Instinkt geleitet wie sein Bruder, stahl einem ehrenwerten Grundbesitzer dreihunderttausend Qian und floh mit seiner Schwester nach Lin’an, ohne zu wissen, dass ein Fahnder namens Kao auf seine Spur gesetzt worden war. Ich kenne die genauen Umstände seiner Flucht nicht, doch trotz des gestohlenen Geldes stürzten er und seine Schwester bald in die Bedürftigkeit. Da erbarmte sich dieser arme, herzensgute Mann seines Leids.« Er deutete auf den Wahrsager. »Er gab ihm eine Arbeit als Hilfsarbeiter auf dem Großen Friedhof der Stadt. Wie Xu bestätigen wird, suchte der Fahnder Kao kurze Zeit später den Friedhof auf, um sich nach einem Flüchtigen namens Ci zu erkundigen. Xu schützte ihn, in Unkenntnis über die Identität des Angeklagten und seine Delikte. Ci dankte ihm diese Großzügigkeit durch Verrat – wie üblich. Er verließ seinen Retter in einem Moment, als dieser ihn am dringendsten brauchte. Monate später dachte Xu an den Vorfall zurück und beschloss, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass Ci sich in der Ming-Akademie versteckt hielt, und informierte den Fahnder. Doch Kao gelang es nicht, ihn zu fassen, da er vorher durch Cis Hände den Tod fand.«
    Grauer Fuchs bat darum, Xu anzuhören. Der Wahrsager warf sich vor dem Kaiser zu Boden, und als dieser ihm dieRedeerlaubnis erteilte, begann Xu seine Ansprache, im vollen Bewustsein der Bedeutung seiner Aussage.
    »Es hat sich alles genau so zugetragen, wie der ehrenwerte Richter gesagt hat. Dieser Fahnder, Kao, bat mich, ihn in die Akademie zu begleiten, und versicherte mir, dass er Ci schnappen werde, und wenn es ihn das Leben kostete. Ich sagte ihm, dass ich keine Scherereien wolle, doch schließlich ließ ich mich überreden. In der Nacht vor seinem Tod führte ich ihn dorthin. Ich blieb in der Nähe und konnte beobachten, wie Ci und Kao aus dem Gebäude kamen und in Richtung Kanal gingen. Mir fiel auf, dass der Fahnder einen Krug in der Hand hatte, aus dem er trank. Zuerst sprachen sie normal miteinander, doch dann diskutierten sie plötzlich hitzig, und da trat Ci in einem günstigen Augenblick an den Fahnder heran, schlug ihm etwas über den Kopf, und noch bevor er ohnmächtig niedersank, stieß er ihn ins Wasser und floh. Ich lief hin, um ihn zu retten, doch ich sah nur noch, wie der Unglückliche in den Fluten verschwand.«
    Ein empörtes Raunen ging durch die Menge, und Hunderte anklagender Augen bohrten sich in Cis Rücken.
    »Dieser Zeuge lügt!«, rief Ci. »Mit der Erlaubnis Seiner Majestät werde ich beweisen, dass dieser Wahrsager mich nicht nur verleumdet, sondern auch Nin Zong, den Sohn des Himmels, und seine hier versammelten Würdenträger täuschen will.«.
    Als er geendet hatte, blickte der älteste Justizbeamte zum Kaiser, in Erwartung, dass er den Angeklagten tadeln würde. Doch Ci war es offenbar gelungen, das Interesse Nin Zongs zu wecken.
    »Erlaubt ihm zu sprechen«, raunte er dem Würdenträger zu.
    Ci verneigte sich tief.
    »Ich kann es nicht alleine beweisen. Ich brauche die Aussage von Professor Ming«, erklärte er.
    * * *
    Die Unterbrechung erlaubte Ci, einen flüchtigen Triumph auszukosten. Es war klug gewesen, den Kaiser mit einzubeziehen, es hatte den Zweifel in seine Gedanken gesät. Und es hatte eine Verzögerung bewirkt, die Ci nicht nur erlaubte, die Aussage Mings einzuholen, sondern auch, den zweiten Teil seiner Strategie vorzubereiten, die er unbedingt zuvor mit Bo besprechen musste.
    Er hatte den Kaiserlichen Berater im Gerichtssaal entdeckt, und als die Wachen ihn in einen Nebenraum geleiteten, passte er ihn ab und bat ihn um seine Hilfe. Bo war überrascht, doch er nickte und gab den Wächtern sein Zeichen des Einverständnisses, als Ci sich

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