Der Totenleser
drehen. Ist das richtig?«
»So ist es, Herr«, antworteten sie wie aus einem Mund.
»Und was genau macht ihr? Ich meine, geht ihr nahe am Wasser entlang? Tretet ihr nur manchmal an den Rand des Kanals?«
»Wir patrouillieren jeden Tag an den Kanälen, um ihre Sauberkeit, die Anlegestellen und die Schleusen zu kontrollieren. Wir arbeiten im südlichen Teil der Stadt, im Bereich des Fischmarktes, der Reismühle und der Mauer«, antwortete der ältere Wachmann.
»Und wie lange geht ihr dieser Arbeit schon nach?«
»Ich selbst seit dreißig Jahren, mein Kollege seit zehn.«
»Das bedeutet, ihr habt viel Erfahrung. Ich bin sicher, dass ihr eure Arbeit sehr gewissenhaft ausübt … Sagt mir: Könnt ihr den Ort genauer beschreiben, an dem ihr den Leichnam gefunden habt?«
»Ich habe ihn zuerst gesehen«, sagte der Jüngere. »Er schwamm wie ein toter Fisch in einem Seitenkanal, wenige Schritte vom Markt entfernt.«
»Im Süden der Stadt?«
»Ja, natürlich. Das hat mein Kollege doch schon gesagt. Da arbeiten wir.«
»Und die Strömung, die durch die Kanäle fließt, in welche Richtung fließt sie?«
»Von Süden nach Norden. Genau wie der Fluss Zhe.«
»Mit der Erfahrung von dreißig Jahren würdet ihr also sagen, dass ein Leichnam, der im Norden der Stadt ins Wassergeworfen wurde, gegen die Strömung nach Süden treiben kann?«
»Das ist unmöglich, Herr. Selbst wenn sich mal auf einem Abschnitt das Wasser staut, würden die Tore der Schleusen den Leichnam aufhalten.«
»Unmöglich?«, mischte sich der Kaiser ein.
Die Wachen blickten sich an.
»Absolut«, antworteten beide.
Jetzt wandte sich Ci an den Kaiser.
»Majestät, jeder weiß, dass die Ming-Akademie ganz im Norden der Stadt liegt. Xu hat ausgesagt, dass ich den Fahnder in den Kanal gestoßen hätte, der der Akademie am nächsten liegt. »Glaubt ihr nicht, es wäre nützlich, zu erfahren, warum Xu gelogen hat?«
* * *
Grauer Fuchs erblasste vor Zorn, als die Kaiserlichen Wachen Nin Zong den Wahrsager erneut vorführten. Während sie ihn durch den Saal schleiften, verwünschte Xu alle, die ihn ansahen, bis ein Stockhieb ihn dazu zwang, vor dem Kaiser niederzuknien.
»Bitte, wann immer Ihr wollt«, meinte der alte Würdenträger.
Zur allgemeinen Überraschung wandte sich Ci zunächst an Grauer Fuchs.
»Auch wenn Ihr vergessen habt, dass wir die Nächte vor dem Mord gemeinsam verbracht haben, erinnert Ihr Euch vielleicht doch noch an die Ursachen, die zum Tod des Fahnders geführt haben. Das solltet Ihr, denn sie tauchen in dem Bericht auf, der Euch den Eintritt in das Richteramt ermöglicht hat.«
Der Graue spitzte die Lippen und tat so, als konsultiere er seine Notizen.
»Das weiß ich sehr gut«, sagte er hochmütig und blickte kaum auf.
»Und wie lauteten sie?«, fragte sie Ci.
»Ein Stab, das durch das Ohr ins Gehirn gestochen wurde«, brummte Grauer Fuchs.
»Ein Metallstab?«
»So ist es.«
»So wie dieser hier?« Ci war mit einem Satz bei Xu und zog eine lange Nadel hervor, die der Wahrsager unter den Haaren versteckt trug. Plötzlich herrschte Totenstille im Gerichtssaal. Grauer Fuchs wurde bleich vor Wut. Als Ci den Metallstab vor den Anwesenden schwang, verließ er zeternd den Gerichtssaal. Ci ließ sich nicht beirren. In Anwesenheit von Feng beschuldigte er den Wahrsager, Kao ermordet zu haben.
»Xu wollte die Belohnung einstreichen, die der Fahnder für mich ausgesetzt hatte. Doch Kao war ein vorsichtiger Mann, er weigerte sich vermutlich, die Belohnung herauszurücken, bevor Xu ihn nicht zu meinem Aufenthaltsort geführt hätte. Ich weiß nicht, ob Xu dachte, dass Kao ihn hereinlegen wolle, oder ob sie wegen anderer Dinge stritten, doch Fakt ist, dass er den Fahnder tötete, um ihn auszurauben, wobei er seine gewohnte Methode verwendete: die Metallnadel.« Ci hielt sie noch einmal in die Höhe, damit alle sie sehen konnten.
»Das ist eine Lüge!«, rief Xu, bevor ihn ein erneuter Stockschlag zum Schweigen brachte.
»Lüge, sagst du? Die Zeugen haben ausgesagt, dass der Leichnam in der Nähe des Fischmarktes gefunden wurde … Interessanterweise wohnst du nur wenige Schritte von demFundort entfernt«, fauchte Ci. »Was die Belohnung angeht, so bin ich überzeugt, dass die Gastwirte und Prostituierten der Gegend den Beamten Seiner Majestät bestätigen werden, dass der Bettler Xu in den Tagen nach dem Mord mit ungeheuren Mengen Geld um sich warf.«
Von der Beweislast offenbar überwältigt, bettelte Xu um Gnade. Doch Nin
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