Der Totenleser
ihnen anschloss. Bo zeigte sich skeptisch, als Ci ihm flüsternd darlegte, was er vorhatte. Doch schließlich willigte er ein.
Dann kamen die Wachen zurück, um Ci wieder in den Saal zu bringen, und Bo verschwand.
Meister Ming hatte bereits Platz genommen, als man Ci erneut vor den Kaiser führte. Er hatte keine Gelegenheit mehr, Ming zu erklären, warum er um seine Anwesenheit gebeten hatte. Er kniete sich zwischen den beiden Wachen auf den Boden und wartete auf die Aufforderung Nin Zongs, sich zu erheben.
»Eure Majestät«, begann Ci. »Wie Ihr wisst, hat der ehrenwerte Meister Ming seit Jahren den Posten als Direktor der Akademie inne, die seinen Namen trägt, eine so prestigereiche Institution, dass sie sogar mit der Universität in Konkurrenz steht. Grauer Fuchs selbst wurde dort ausgebildet …Obwohl er sechs Jahre gebraucht hat, um einen Titel zu erwerben, den viele andere in zweien erreichen«, fügte er hinzu.
Nin Zong runzelte die Stirn und sah missbilligend zu Grauer Fuchs hinüber.
»Meister Ming verdient unser vollstes Vertrauen«, fuhr Ci fort. »Ein redlicher Mann, der mit seiner Ehrlichkeit und mit seiner Arbeit dazu beigetragen hat, das Wissen der Untertanen des Kaisers zu mehren«, sagte er. »Ein Mann, an dessen Wort man nicht zweifeln kann.«
»Eure Fragen«, mahnte der älteste Würdenträger.
»Entschuldigung, natürlich«, sagte Ci. »Meister Ming, erinnert Ihr Euch an den Tag, an dem mehrere Schüler, unter ihnen ich, die Leiche eines ertrunkenen Fahnders in der Präfektur von Lin’an untersuchten?«
»Selbstverständlich. Es handelte sich um einen ungewöhnlichen Fall, durch den Grauer Fuchs seinen Posten am Hof bekam. Das war zwei Tage vor den vierteljährlichen Examen.«
»Und während der Woche vor den Examen, dürfen die Schüler da die Akademie verlassen?«
»Auf keinen Fall. Das ist streng verboten. Wenn doch einmal ein Schüler aus Gründen höherer Gewalt das Gebäude verlassen muss, wird das von der Türwache notiert, etwas, das wie wir wissen, zu der Zeit nicht geschah.«
»Gut. Und wie bereiten sich die Schüler auf diese Quartalsexamen vor?«
»In dieser Woche verbringen die Schüler den ganzen Tag in der Bibliothek und die Nacht in ihren Zimmern, wo sie bis weit in die Morgenstunden hinein lernen.«
»Erinnert Ihr Euch, dass mir bei meinem Eintritt in die Akademie ein Zimmergenosse zugewiesen wurde?«
»Ja, wie jedem anderen Schüler auch. So ist es«, antwortete Ming.
»So dass also, abgesehen von diesem Register, auch mein Zimmergenosse glaubwürdig bezeugen könnte, ob ich in den Nächten vor dem Verbrechen die ganze Zeit in der Akademie war.«
»In der Tat, das könnte er.«
»Und könntet Ihr von dem Diebstahl berichten, der nach der Untersuchung der Leiche des Fahnders geschah?«
»Dem Diebstahl? Ach ja, du meinst das Entwenden deines Berichts. Eine unerfreuliche Geschichte«, sagte Ming und wandte sich an die versammelten Würdenträger. »Ci hatte einen detaillierten Bericht über den Tod Kaos ausgearbeitet, in dem er feststellte, dass er ermordet worden war. Einen Bericht, den sein Zimmergenosse stahl und als seinen eigenen präsentierte, um sich den Posten am Kaiserlichen Hof zu sichern.«
»Meister Ming, eine letzte Frage. Erinnert Ihr Euch an den Namen meines Zimmergenossen aus dieser Zeit?«
»Natürlich, Ci. Dein Zimmergenosse war Grauer Fuchs.«
Mit gespielter Empörung erhob sich Grauer Fuchs und bat darum, den Professor ebenfalls verhören zu dürfen. Zuvor hatte Feng ihm einen Zettel zugeschoben.
»Verehrter Meister«, schmeichelte Grauer Fuchs mit gütlicher Stimme.»Seid Ihr sicher,die Wahrheit gesagt zu haben?«
»Ja, natürlich!«, antwortete Ming entrüstet.
»Habt Ihr gesehen, wie ich den Bericht stahl?«
»Nein, aber …«
»Nein? In Ordnung. Dann sagt mir: Haltet Ihr Euch für einen ehrenwerten Menschen?«
Ming räusperte sich. »Ja, sicher.«
»Ehrlich? Integer?«
»Was soll das Ganze?« Ming sah hinüber zu Ci. »Natürlich, ja.«
»Lasterhaft?« Der Tonfall des Grauen war mit einem Mal scharf geworden.
Ming senkte den Kopf und schwieg.
»Habt Ihr die Frage nicht verstanden?«, rief der junge Richter boshaft. »Muss ich sie noch einmal wiederholen?«
»Nein«, sagte Ming mit schwacher Stimme.
»Was, nein? Seid Ihr kein lasterhafter Mensch, oder brauche ich die Frage nicht zu wiederholen?«
»Ich bin nicht lasterhaft«, sagte Ming mit festerer Stimme.
»Interessant. Als was würdet Ihr dann Eure außerordentliche
Weitere Kostenlose Bücher