Der Totenleser
welche Alternative bleibt dir? Wenn du rausgehst und dich ihnen entgegenstellst, machen sie dich fertig. Du hastdas Schuldgeständnis unterzeichnet, auch wenn es unleserliches Gekritzel ist. Hast du deinem Plädoyer selbst zugehört? Deine Beweise sind nichts als Indizien. Du hast nichts Greifbares gegen Feng in der Hand.«
Ci suchte Halt in Bos Blick, doch er fand ihn nicht.
»Überlege es dir.«, sagte Bo. »Es ist nicht nur das Beste, es ist das Einzige, das du tun kannst.«
Resigniert senkte Ci den Kopf und folgte dem Kaiserlichen Berater mit langsamen Schritten zurück in den Gerichtssaal.
Niedergeschlagen ließ Ci sich vor dem Thron auf die Knie fallen. Sogleich wies Nin Zong seinen Schreiber zufrieden an, die finale Urteilsschrift vorzubereiten, die der älteste Würdenträger wenig später verlas. Darin stellte man die Täterschaft Cis zweifelsfrei fest, und alle Anschuldigungen gegen Feng wurden für nichtig erklärt.
Man reichte dem Angeklagten das Dokument, damit er seine Unterschrift darunter setzte. Ci nahm die Schulderklärung mit zitternden Händen entgegen. Er nahm den Pinsel in die Hand, doch war er nicht in der Lage, ihn zu halten. Ci entschuldigte sich für seine Ungeschicklichkeit, hob den Pinsel auf und verharrte einen Moment nachdenklich über dem Schuldgeständnis, das keinen Raum für Interpretationen ließ: Es benannte ihn als einzigen Verantwortlichen, ohne die Beteiligung Fengs in irgendeiner Weise zu erwähnen.
Ci dachte an Bos Argumente, während er sich fragte, ob es wirklich das war, was sein Vater sich für ihn gewünscht hätte. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er umfasste den Pinsel fester und tauchte ihn in die Tinte. Dann begann er langsam, die Zeichen seines Namens zu malen. Der Pinsel bewegte sich schleppend, wie geführt von der leblosenHand eines alten Mannes. Als er beim Nachnamen angekommen war, dem Namen seines Vaters, hielt Ci inne. Er hob den Blick,Feng lächelte triumphierend. Vor seinem inneren Auge sah er gleichzeitig die Leichen seiner Eltern, die unter den Trümmern begraben lagen, ihre zerschmetterten Körper, das Märtyrium seines Bruders und den Todeskampf Mei Meis. Er konnte sie nicht verraten. Er konnte es nicht dabei belassen. Er nahm das Dokument und riss es in tausend Fetzen.
Der Zorn Nin Zongs ließ nicht lange auf sich warten. Er verfügte sofort, dass man dem Gefangenen Handschellen anlegte und ihn mit zehn Stockhieben bestrafte.
Doch Ci blieb unbeugsam und bestand auf dem Ritual der letzten Worte.
»Bis die Wasseruhr durchgelaufen ist!«, grollte Nin Zong und ordnete an, dass man den hydraulischen Mechanismus in Gang setzte, der Cis Redezeit begrenzte.
Ci holte tief Luft. Das Wasser begann zu fließen.
»Majestät, vor mehr als einem Jahrhundert ließ sich Euer ehrenwerter Urgroßvater von tendenziösen Beratern leiten, die die Verurteilung des Generals Yue Fei veranlassten, eines unschuldigen Mannes, dessen Größe und Loyalität gegenüber unserer Nation heute als Vorbild in allen Schulen gelehrt wird. Das schreckliche Urteil gilt uns Nachgeborenen als eines der schändlichsten Ereignisse unserer herrlichen Geschichte. Yue Fei wurde hingerichtet, und obwohl Euer Vater ihn postum rehabilitierte, wurde der Schaden, der seiner Familie entstand, nie ausreichend wiedergutgemacht.« Ci suchte das Gesicht von Blaue Iris. »Ich will mich nicht mit jemandem wie unserem geliebten General vergleichen, dennoch wage ich es, Euch um Gerechtigkeit zu bitten. Ich habe ebenfalls einen Vater, der entehrt worden ist. Ihr verlangt vonmir, dass ich Verbrechen auf mich nehme, die ich nicht nur nicht begangen habe, sondern zu deren Aufklärung ich mein Möglichstes beigetragen habe. Und ich kann beweisen, dass alles, was ich gesagt habe, wahr ist.«
»Das behauptest du seit Beginn der Verhandlung.« Nin Zong machte eine ungeduldige Handbewegung in Richtung der Wasseruhr.
»Dann erlaubt mir, dass ich Euch die schreckliche Vernichtungskraft dieser Waffe vorführe.« Ci hob seine Hände und bat darum, dass man ihn von den Ketten befreite. »Denkt daran, was geschehen würde, wenn eine so tödliche Erfindung in die Hand des Feindes fiele. Denkt daran, und denkt an unsere Nation.«
Ci wartete auf eine Reaktion des Kaisers.
»Befreit ihn«, rief Nin Zong missmutig.
Ci trat schwankend vor, sein Magen schmerzte vor Angst. Vor dem Thron kniete er nieder, richtete sich unsicher wieder auf und streckte den Arm aus. Der Kaiser legte die kleine Kanone in seine
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