Der Totenleser
Händen hielt, an sich zu reißen.
»Zurück!«, warnte er. Bevor ihn jemand aufhalten konnte, griff er nach einer Kerze und zündete die Lunte. »Ich habe gesagt, ihr sollt zurückbleiben!«, brüllte er noch einmal und zielte auf den Kaiser. Die Soldaten wichen zurück. »Und du, du undankbares Stück …« Er hob den Arm und richtete die Waffe auf seine Frau. »Ich habe dir alles gegeben … Ich habe alles für dich getan …« Die Lunte brannte immer weiter ab.
Diejenigen, die bei Blaue Iris standen, duckten sich ängstlich. Keuchend hielt Feng die Kanone in seinen zitternden Händen. Die Lunte war beinahe bis zum Ende heruntergebrannt. Feng stieß einen wilden Schrei aus. Und plötzlich riss er die Waffe herum und legte sich den Lauf an die Schläfe.
Ein trockener Knall hallte durch den Saal, und Feng sackte leblos in einer Blutlache zusammen. Sofort warfen sich mehrere Wachen auf ihn, doch der Richter war bereits tot. Nin Zong erhob sich entsetzt, ordnete an, dass man Ci freiließ, und erklärte den Prozess für beendet.
EPILOG
Ci erwachte mit steifen Gliedern. Seit der Verhandlung war eine Woche vergangen, dafür verheilten seine Wunden schnell und gut. Er rieb sich die Augen und lauschte den Stimmen der aufgeregt durcheinanderredenden Studenten, die eilig in die Aulen strömten. Er war wieder zu Hause, zwischen seinen Büchern.
»Wie geht es dem Meister?«, fragte Ci den Arzt, der neben seiner Pritsche stand.
»Seine Beine heilen so gut wie die einer Eidechse. Und er hat mir gesagt, dass er dich sehen will … Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du aufstehst.« Er klopfte ihm auf die Schulter.
Ci freute sich. Seit seiner Ankunft in der Akademie war er ans Bett gefesselt gewesen, und von Mings Zustand hatte er nur durch die Ärzte und Diener erfahren, die ihn pflegten. Er setzte sich mühsam auf und betrachtete die aufgehende Sonne. Sie leuchtete in einem kräftigen Orange, und in ihrem Strahlen glaubte er, seine Eltern und Geschwister zu erkennen.
Endlich hatte er seinen Frieden mit ihnen geschlossen. Erehrte sie mit einem Räucherstäbchen und sog den Duft tief ein.
Er verließ sein Zimmer, gestützt auf den roten Stock, den Blaue Iris ihm geschickt hatte. Er träumte jede Nacht von ihr, und auch jetzt, auf dem Weg zu Mings Gemächern, dachte er an ihre Schönheit und ihre Unergründlichkeit. Die Wärme dieses anbrechenden Tages tröstete ihn.
»Ci!«, rief Ming. »Du kannst schon wieder laufen …!«
Ci rückte einen Schemel an das Bett des Professors, er sah erschöpft aus, doch seine Augen sprühten vor Freude. Er bat einen Bediensteten, Ci eine Tasse Tee zu bringen, dann sah er seinen Schüler an.
»Ci, es gibt Dinge, die ich immer noch nicht verstehe … Welches Motiv hat Feng zu seinen Abscheulichkeiten getrieben?«
»Darüber habe ich mir auch den Kopf zerbrochen … Der Bronzefabrikant war ein Prahlhans, dessen Redefluss ebenso stetig war wie seine Selbstherrlichkeit. Ich vermute, er setzte Feng unter Druck. Der mongolische Diener sagte aus, dass der Fabrikant sich Zugang zur gesellschaftlichen Elite verschaffen wollte. Offenbar erpresste er Feng mit seinem Wissen um die Handfeuerwaffe und die Verbindungen des Richters zu den Jin. Feng muss daraufhin gefürchtet haben, dass ihn die Indiskretion und die Gier des Mannes gleichermaßen in Gefahr brachten, und er beschloss, ihn noch in derselben Nacht zu töten. Was den taoistischen Alchemisten und den Sprengmeister betrifft, so habe ich ja bereits in der Verhandlung dargelegt, dass Feng es vorzog, sie zu töten, anstatt zu riskieren, dass sie ihn wegen seiner Zahlungsschwierigkeiten verrieten. Offenbar hatte er ziemlich hohe Schulden, die er nicht begleichen konnte.«
»Aber warum tötete Feng den Strafrat? Er musste dochwissen, dass dieses Verbrechen niemals unentdeckt und ungesühnt bleiben würde.«
Ci überlegte einen Augenblick. »Ich denke, er sah sich gezwungen, es zu tun. Kan schien besessen von der Idee, dass Blaue Iris hinter den Verbrechen steckte. Sein Argwohn hätte ihn früher oder später womöglich den wahren Täter entdecken lassen. Feng glaubte, das perfekte Verbrechen verübt zu haben, indem er einen Selbstmord vortäuschte. Eine perfide Idee, die ihn von jeglichem Verdacht befreit hätte, da er den Strafrat ja dazu gezwungen hatte, alle Schuld auf sich zu nehmen. Als ich dann ausgerechnet Feng meine Zweifel an einem Selbstmord enthüllte, versorgte er Grauer Fuchs mit den Informationen. Er kannte die Ambition des
Weitere Kostenlose Bücher