Der Totenleser
Hand.
Vor den Augen Nin Zongs zog Ci den kleinen runden Stein hervor, und das Säckchen mit Schwarzpulver, das er in Fengs Schreibtisch gefunden hatte.
»Das Projektil, das ich in den Händen halte, ist identisch mit jenem, das das Leben des Alchemisten beendete. Ihr könnt sehen, dass es nicht vollständig rund ist, sondern dass an einer Stelle ein Splitter herausgesprungen ist. Ein Bruch, der entstand, als es auf einen Wirbel des Alchemisten traf, und den ich fand, als ich einen Spieß in die Wunde stieß, um ihre Tiefe zu prüfen.«
Wie er es in den Abhandlungen über konventionelle Kanonen gelesen hatte, schüttete er das Pulver in das Feuerrohr, stopfte es mit Hilfe eines Pinselstiels fest und ließ die Kugelhineinfallen. Dann riss er sich einen Streifen Stoff aus dem Hemd und drehte ihn zu einer Lunte, die er in eine kleine seitliche Öffnung steckte. Schließlich reichte er Nin Zong die Kanone.
»Hier habt Ihr sie. Man muss nur noch die Lunte zünden und zielen.«
Der Kaiser betrachtete die Kanone, als halte er ein Wunder in der Hand.
»Majestät«, unterbrach ihn Feng. »Wie lange muss ich dieses groteske Schauspiel noch ertragen? Alles, was aus dem Mund dieses Mannes dringt, ist nichts als Lüge …«
»Lüge?« Ci wandte sich zu ihm um. »Dann erklärt mir mal, wie es möglich ist, dass die Scherben der Gussform, die Ihr mir gestohlen habt, das Schießpulver und die Kugel, die das Leben des Alchemisten beendete, versteckt in der Schublade Eures Schreibtisches lagen!«, rief Ci und wandte sich wieder an den Kaiser. »Denn dort habe ich sie gefunden, und dort werden Eure Männer, wenn Ihr sie hinschickt, noch mehr Projektile finden!«
Mit zusammengepressten Kiefern trat Feng auf den Thron des Kaisers zu.
»Wenn du sie aus meinem Zimmer geholt hast, dann kannst du sie ebenso gut selbst dort deponiert haben.«
Ci spürte, wie die Beine unter ihm nachgaben. Er schluckte und suchte verzweifelt nach einem Ausweg.
»Nun gut, dann beantwortet mir diese Frage«, brachte er schließlich statt einer Antwort hervor. »Strafrat Kan wurde im fünften Mond dieses Monats ermordet, wo hieltet Ihr Euch in jener Nacht auf? Bo bestätigte mir, dass eine der Wachen Euch erkannt hat, als Ihr im Sonnenuntergang den Palast betratet.« Ci wies auf Bo, der Kaiserliche Berater nickte. »Ihr hattet ein Motiv, Ihr hattet die Mittel … Und nachallem, was wir jetzt trotz Eurer Lügen herausgefunden haben, hattet Ihr auch die Gelegenheit.«
»Ist das wahr?«, fragte Nin Zong.
»Nein! Das ist es nicht!«, geiferte Feng. »Ich habe die Nacht zu Hause verbracht, zusammen mit meiner Frau … Ich habe mich die ganze Nacht an ihr erfreut. Ist es das, was Ihr hören wollt?«
Feng log. Ci wusste, dass er log, denn in ebenjener Nacht war er selbst mit Blaue Iris zusammen gewesen.
»Du hingegen, wo warst du?«, schäumte Feng. »Wo warst du in der Nacht, als Kan ermordet wurde?«
Ci errötete. Er sah zu Blaue Iris, suchte vergeblich etwas in ihrem blinden Blick, an das er sich klammern konnte, um dem Strudel zu entkommen, der ihn in die Tiefe zog. Doch Blaue Iris saß mit unbeweglicher Miene da, ungerührt und stumm. Ci musste einsehen, dass sie Feng niemals verraten würde, und er konnte es ihr nicht vorwerfen. Würde sie ihn verraten, würde sie ihre Untreue enthüllen, wäre das Urteil nicht nur über ihren Ehemann gefällt, sondern auch über sie. Er hatte nicht das Recht, sie zu zerstören.
»Wir warten«, drängte Nin Zong. »Gibt es etwas, das du hinzufügen möchtest, bevor ich mein Urteil spreche?«
»Nein.« Ci senkte den Kopf.
»In dem Fall erkläre ich, Kaiser Nin Zong, Sohn des Himmels und Herrscher des Reiches der Mitte, die Schuld des Angeklagten Song Ci für bewiesen und verurteile ihn zu …«
»Ich war mit ihm zusammen!«, rief jemand aus der Tiefe des Saals dazwischen.
Die Versammelten wandten sich um, und als sie die Person ausmachten, die gesprochen hatte, ging ein Aufschrei durch die Reihen.
»Ich habe nicht bei meinem Mann geschlafen«, erklärteBlaue Iris mit fester Stimme. »In der Nacht, als Kan ermordet wurde, war ich mit Ci zusammen.«
Feng wurde totenbleich, er taumelte. »Das kannst du mir nicht antun!« Er machte Anstalten, zu fliehen, doch der Kaiser befahl, dass man ihn festnahm. »Lasst mich los! Verdammte Hure!«, schrie Feng wie von Sinnen. »Nach allem, was ich für dich getan habe!« Es gelang ihm, sich aus dem Griff der Wachen zu befreien und die kleine Kanone, die der Kaiser in den
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