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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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erzählt, dass deine Familie Ländereien besitzt. Ländereien, für die er deinem Vater einst eine faire Summe geboten hat.«
    »Das ist richtig«, stammelte Ci.
    »Und Feng sagte mir, dass es unter diesen Umständen besser wäre, wenn ich mit dir redete statt mit deinem Vater.« Er erhob sich und kontrollierte, ob die Tür gut verschlossen war. Dann kam er zurück an den Tisch und setzte sich.
    »Entschuldigt, aber ich verstehe nicht …«
    »Sieh mal, Ci, es geht darum, dass wir uns vielleicht über die Summe einig werden könnten, die deinen Bruder vor der Folter rettet.«
    * * *
    Ci verbrachte den Rest des Nachmittags damit, über den Vorschlag des Hüters der Weisheit nachzudenken. Vierhunderttausend Qian schienen ihm eine maßlos hohe Summe, doch gleichzeitig vollkommen nichtig, wenn sie dazu diente, das Leben seines Bruders zu retten. Als er zu Hause ankam, überraschte er seinen Vater beim Studieren von Dokumenten. Der Alte hustete linkisch und stopfte sie schnell in die rote Truhe. Dann drehte er sich zu Ci um.
    »Nun störst du mich schon zum zweiten Mal. Beim dritten Mal wird es dir leid tun.«
    »Ihr habt ein Strafgesetzbuch, nicht wahr?« Der Vater antwortete nicht auf das, was er für eine Ungezogenheit hielt, doch Ci fuhr fort: »Ich muss dort etwas nachsehen.Vielleicht kann ich Lu helfen.«
    »Wer hat das gesagt? War das Feng, der Schuft? Beim GroßenBuddha, vergiss deinen Bruder, der hat uns wahrhaft genug Ärger gemacht.«
    Die harten Worte seines Vaters irritierten Ci.
    »Wer es mir gesagt hat, ist nebensächlich. Das Wichtige ist, dass unsere Ersparnisse Lu retten könnten.«
    »Unsere Ersparnisse? Seit wann hast du Ersparnisse? Vergiss deinen Bruder und halte dich fern von Feng.«
    »Aber Vater … Der Hüter der Weisheit hat mir versichert, dass, wenn wir ihm vierhunderttausend Qian geben …«
    »Schlag dir das aus dem Kopf ! Weißt du, wie viel wir haben? In sechs Jahren als Buchhalter habe ich nicht einmal hunderttausend verdient. Die Hälfte habe ich dafür ausgegeben, uns zu unterhalten, und die andere Hälfte für dich. Von heute an sind wir auf uns gestellt, also spar dir deine Energie für die Feldarbeit auf, denn da wirst du sie ab sofort brauchen.« Er bückte sich und deckte die Truhe mit einem Tuch ab.
    »Vater, an diesem Verbrechen gibt es etwas, das ich nicht verstehe. Ich muss herausfinden, was tatsächlich geschehen ist.«
    Der Alte hob drohend die Hand gegen Ci. Was, um Himmels willen, war in seinen Vater gefahren? Auf unerklärliche Weise hatte er sich vom ehrenhaften Familienoberhaupt in einen grauhaarigen Alten verwandelt, der in diesem Augenblick zitternd vor Wut und mit zusammengekniffenen Lippen vor ihm stand und ihn offenbar schlagen wollte. Ci wandte sich fassungslos ab und verließ das Haus. Er würde später selbst nach dem Strafgesetzbuch suchen.
    Ci lief durch den Regen, bis er das Haus der Familie von Kirschblüte erreichte. Davor stand ein kleiner Totenaltar, den der Regen in einen Haufen umgefallener Kerzen und zerpflückter Blumen verwandelt hatte. Er stellte alles auf undschlich um die Eingangstür herum zu dem Zimmer, in dem seine Verlobte zu ruhen pflegte. Dort schützte das Vordach ihn vor dem Regen. Wie üblich klopfte er mit einem Kieselstein an einen der Holzbalken und wartete auf ihre Antwort. Es schien ihm wie eine Ewigkeit, bis schließlich ein leises Geräusch verriet, dass sich das Mädchen auf der anderen Seite befand.
    Sie konnten nur selten miteinander sprechen, die strengen Regeln der Verlobungszeit machten es beinahe unmöglich. Alle Ereignisse und Feste, zu denen sie sich sehen durften, waren festgelegt, doch von Zeit zu Zeit gelang es ihnen, eine zufällige Begegnung auf dem Markt zu arrangieren. Dann berührten sich ihre Hände kurz unter dem Fischstand, oder sie warfen sich Blicke zu, um sich ihrer Zuneigung zu versichern.
    Er verzehrte sich nach ihr. Oft schwelgte er in der Vorstellung, sanft über ihre weiße Haut zu streichen, über ihr rundes Gesicht und ihre wohlgeformten Hüften. Er träumte von ihren Füßen, die immer verhüllt waren und die er sich klein und grazil vorstellte wie die seiner Schwester Mei Mei. Füße, die Kirschblütes Mutter ihr von klein auf eingebunden hatte, damit sie aussahen wie die Füße der Frauen von hoher Abstammung.
    Das Trommeln des Regens riss ihn aus seinen Phantasien zurück in eine Nacht, in der nicht einmal die Hunde draußen schliefen. Es regnete, als hätten die Götter die Staudämme des Himmels

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