Der Totenleser
das östliche Meer erst erreicht hätten, führen sie ein Etmal weiter die Küste hinauf zur Hauptstadt.
Da Ci befürchtete, Bao-Pao könnte schon Alarm geschlagen haben, vermied er die Hauptanlegestelle und ging stattdessen zum südlichen Ende des Landeplatzes, wo die Feldarbeiter mit dem Ausladen beschäftigt waren. Ein Altermit fleckiger Haut balancierte auf einer halb versunkenen Schaluppe und sah zu, wie seine Bootsmänner sich an den Tauen zu schaffen machten. Ci hörte, wie einer von ihnen rief, dass sie bald aufbrechen müssten, wenn sie pünktlich in Lin’an sein wollten, also wartete er ab, bis der Alte wieder auf dem Festland stand, um ihn darum zu bitten, sie mitzunehmen. Der Mann war erstaunt, denn üblicherweise verhandelten die Dorfbewohner direkt mit der Schifffahrtsgesellschaft.
»Ich schulde dem Reeder Geld, das ich jetzt nicht bezahlen kann«, sagte Ci und bot ihm eine Handvoll Münzen an, die der Alte mit einem Kopfschütteln ablehnte.
»Das ist nicht genug. Außerdem ist das Boot klein, und du siehst ja, wie beladen es ist.«
»Herr, ich bitte Euch. Meine Schwester ist krank, und sie braucht Medizin, die man nur in Lin’an bekommt.«
»Dann fahr mit der Kutsche nach Norden.«
»Bitte … Die Kleine wird die Reise auf dem Landweg nicht überstehen.«
»Das ist hier kein Armenhaus. Wenn du an Bord willst, musst du noch mal in deinem Beutel wühlen.«
Ci versicherte ihm, dass er ihm alles böte, was er besäße, doch der Alte wurde nicht weich. Allein, den Wechsel erwähnte er nicht.
»Ich werde den ganzen Tag arbeiten.«
»Mit diesen Händen?«
»Lasst Euch nicht von meinem Aussehen täuschen … Ich werde hart arbeiten, und wenn nötig, bezahle ich den Rest, wenn wir an Land gehen.«
»In Lin’an? Und wer wartet da auf dich? Der Kaiser mit einem Sack voll Gold?« Der Alte sah skeptisch von der kleinen Mei Mei zu dem Jungen in dem zerlumpten Anzug.Die beiden würden seinen Männern keine große Hilfe sein. Schließlich spuckte er den Reis aus, den er die ganze Zeit im Mund herumgeschoben hatte, und fluchte.
»Verdammt sei Buddha! Einverstanden, Junge. Du wirst tun, was ich sage, und wenn wir in Lin’an ankommen, wirst du alles ganz alleine ausladen, bis auf den letzten Stamm.Verstanden?«
Ci dankte ihm, als schuldete er ihm sein Leben.
Einmal an Bord, half Ci den beiden Bootsmännern, mit Bambusstangen die Barkasse aus dem Schlamm herauszumanövrieren, während Wang, der Bootsführer, unter Rufen und Verwünschungen das Steuer bediente. Und endlich glitt das vollkommen überladene Boot auf den Fluss hinaus und brachte sie für immer fort aus dem Dorf.
Cis Arbeit beschränkte sich zunächst darauf, mit einem Stock die Zweige abzuhalten, die das Boot auf seinem Weg passierte, und mit Hilfe eines geliehenen Angelhakens zu fischen. Von Zeit zu Zeit kontrollierte der Bootsmann im Bug die Tiefe der Fahrrinne, während der im Heck die Barkasse mit der Stange vom Grund abstieß, sobald die Strömung schwächer wurde. Als die Sonne unterging, warf der Bootsführer in der Mitte des Flusses den Anker aus, zündete eine Papierlaterne an, die einen Schwarm Mücken anzog, und verkündete, dass sie bis zum Sonnenaufgang ruhen würden. Ci baute ein Schlaflager zwischen zwei Säcken für Mei Mei und setzte sich neben sie. Sie aßen ein wenig gekochten Reis zu Abend, den die Besatzung zubereitet hatte, und ehrten die Geister ihrer Eltern. Bald war nur noch das Plätschern des Wassers zu hören. Doch die Stille der Nacht verhinderte nicht, dass Ci von Angst und Sorge überwältigt wurde. Wie sollten Mei Mei und er sich in Lin’an durchschlagen?
Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen, indem er sich einredete, dass die guten Geister der Eltern doch weiter in ihrer Nähe blieben und für sie sorgten. Von klein auf hatte er gelernt, den Tod als ein natürliches und unvermeidliches Ereignis zu sehen: Mütter starben bei der Geburt ihrer Kinder, Kinder wurden tot geboren oder ertränkt, wenn die Eltern nicht genügend besaßen, um sie zu ernähren, die Alten starben auf den Feldern, erschöpft, krank und verlassen. Überschwemmungen radierten ganze Dörfer von der Landkarte, Taifune und Stürme ließen ihre Wut an den Unvorsichtigen aus. Die Minen verlangten ihren Tribut, ebenso wie die Flüsse und Meere, es gab Hungersnöte, Krankheiten, Morde … Der Tod war so allgegenwärtig wie das Leben, und trotzdem haderte er mit dem einen wie mit dem anderen. Obwohl er wusste, dass alles, was
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