Der Totenleser
begleiten. Dann verabschiedete er sich von den Dienern Bao-Paos und gab vor, sich auf den Weg zum Reisherrn zu machen. Kaum waren die Getreuen des Dorfvorstehers jedoch außer Sichtweite, machte er kehrt und folgte ihnen in sicherem Abstand bis zu dem Lagerraum, in dem sein Bruder gefangen gehalten wurde.
Als sie sich in Richtung des Hauptgebäudes von Bao-Pao entfernten, wagte er einen Rundgang um den Lagerraum. Er zählte nur eine Wache, und doch wusste er nicht, wie er an dem Posten vorbeikommen sollte. Zusammengekauert in seinem Versteck, übermannte ihn die Verzweiflung. Die Zeit arbeitete gegen ihn, er musste mit seinem Bruder sprechen,bevor er floh. Wie viele Beweise Lu auch belasteten, er wollte nicht glauben, dass er ein Mörder war.
Ci blickte um sich. Die Luft war rein, bis auf diesen einen verflixten Wachmann. Wenn er versuchte, ihn zu bestechen, riskierte er, dass man ihn festnahm. Sollte er vielleicht ein Feuer legen, um die Aufmerksamkeit des Mannes abzulenken? Doch er hatte weder Zunder noch Feuerstein bei sich, und selbst wenn er beides auftrieb, könnte ein Feuer auch den gegenteiligen Effekt haben und noch mehr Menschen herbeilocken. Während er sich den Kopf zerbrach, ließ er den Lagerraum nicht aus den Augen. Plötzlich merkte er auf: Er hatte ein kleines vergittertes Fensterchen an der Längsseite des Lagers entdeckt, das ihm bisher nie aufgefallen war und das der Wachposten nur im Blick haben konnte, wenn er sich von der Tür wegbewegte – was er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht tun würde. Unbemerkt schlich er sich an die Seite des Gebäudes heran und kletterte auf ein herumstehendes Fass. Er spannte die Arme und zog sich an den Gittern des Fensters hoch. Dahinter lag ein Raum, in dem allerlei Gegenstände herumstanden, die Ci zunächst nicht identifizieren konnte. Erst nach und nach gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel, und er machte eine zusammengekrümmte Gestalt in einer Blutlache aus. War das ein Mensch? Ci wurde schwarz vor Augen, er verlor den Halt und fiel zu Boden. Mühsam rappelte er sich hoch und rannte fort. Doch nach wenigen Minuten wurden ihm die Knie weich, und er musste sich übergeben. Diese Bastarde hatten seinen Bruder auf bestialische Weise gefoltert und getötet. Es war nichts mehr von ihm übrig. Nur die Wut, die noch in seiner Seele nisten musste.
Es war höchste Zeit, das Dorf zu verlassen. Der Reisherr würde ein Grundstück von ihm fordern, das ihm nicht mehrgehörte, oder Geld, das er ebenfalls nicht mehr besaß. Weder er noch der Hüter der Weisheit würden mit sich reden lassen.
Verzweifelt lief er zu Kirschblüte, um ihr von seiner Absicht zu erzählen und sie zu bitten, auf ihn zu warten. Doch die Antwort des Mädchens war eindeutig: Niemals würde ihre Familie es zulassen, dass sie einen Flüchtigen ohne Beruf und ohne Ländereien heiratetete.
»Ist es wegen meines Bruders? Dann musst du dich nicht mehr sorgen …«, sagte Ci bitter. »Sie haben ihn hingerichtet. Hörst du? Er ist tot. Tot!« Niedergeschlagen wartete Ci jenseits des verschlossenen Fensters auf eine Antwort.
Doch sie blieb aus, und er sollte Kirschblütes Stimme nie wieder hören.
ZWEITER TEIL
8
Er fand Mei Mei genau so vor, wie er sie verlassen hatte: Tapfer wachte die Kleine über den Schinken. Zur Belohnung schnitt Ci ihr eine dicke Scheibe ab. Während das Mädchen aß, wechselte Ci seine weiße Trauerkleidung gegen einen Anzug aus grobem Leinen, der seinem Vater gehört hatte. Er war schmutzig, aber wenigstens würde man ihn nicht gleich erkennen. Dann schnürte er einen Beutel mit Kleidung, den übrigen Lebensmitteln und Münzen – und dem Strafgesetzbuch. Den Wechsel über fünftausend Qian steckte er in eine Tasche, die er unter der Kleidung Mei Meis versteckte, schließlich warf er sich das Bündel über die Schulter und nahm die Kleine bei der Hand.
»Hast du Lust, Boot zu fahren?« Er kitzelte sie, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Du wirst schon sehen, dass es dir gefällt.«
Sie gingen auf einem Umweg zur Anlegebrücke. Cis erster Gedanke war gewesen, auf dem nördlichen Landweg nach Lin’an zu reisen, doch weil es die gängigste Verbindung war, beschloss er, sie zu meiden. Auf dem Wasserweg waren sie zweifellos sicherer, wenn es auch umständlicher schien.
Zur Erntezeit legten zahlreiche Reisbarkassen in Richtung zum Meerhafen von Fuzhou ab, ebenso wie kleine, mit wertvollen Hölzern beladene Lastkähne. Eines von diesen Booten mussten sie finden. Wenn sie
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