Der Totenleser
Wie hatte er nur so dumm sein können, das Geld im Voraus zu bezahlen!
»Ich möchte mich noch einmal entschuldigen, ich bedaure jedes eitle Wort, das Euch beleidigt haben könnte, aber ich brauche mein Geld, weil …«
»Dein Geld?«, unterbrach ihn eine Stimme aus dem Hintergrund.Sie gehörte Bao-Pao, der plötzlich aufgetaucht war. »Du meinst die Summe, die du für den Verkauf eines Grundstücks erhalten hast?«
Ci wandte sich um. Gerade noch sah er den tätowierten Wachmann des Reisherrn aus dem Raum verschwinden. Man hatte ihn verraten!
»So ist es«, antwortete Ci.
»Dann sprechen wir also von meinem Geld«, fuhr der Dorfvorsteher fort.
»Wie …?«, stammelte Ci.
»Oh, hatte ich das gar nicht erwähnt?«, flötete der Hüter mit der Scheinheiligkeit eines Viehhändlers. »Heute Morgen habe ich Lus Strafe umgewandelt und eine kleine Klausel hinzugefügt, die die Enteignung all seines Grundbesitzes beinhaltet.«
»Aber … ich habe bereits verkauft …«
»Ein Grundstück, das mir nun großzügig zur Bewirtschaftung überlassen worden ist«, fügte Bao-Pao hinzu.
Ci wurde blass. Bao-Pao und der Hüter der Weisheit hatten sich zusammengetan, um ihn nach Belieben zu manipulieren. Wenn er gewollt hätte, hätte der Hüter das Grundstück schon während der Verhandlung enteignen können, doch er hatte gewartet, bis Ci die Strafe zahlte, damit Bao-Pao das Geld und das Grundstück bekam. Er musste sich etwas einfallen lassen, und zwar schnell.
»Nun gut, dann werdet Ihr nicht in den Genuss der zweiten Rate kommen«, improvisierte er.
»Zweite Rate? Was meinst du damit?«, fragte der Hüter der Weisheit argwöhnisch.
»Der Reisherr war sehr interessiert daran, diese Grundstücke zu erwerben. Er wusste von Eurem Interesse, und um sich den Kauf zu sichern, hat er mir eine zweite Rate vondreihunderttausend Qian in Aussicht gestellt, wenn der Zustand des Grundstücks und die Legalität des Verkaufs überprüft wären. Ich bin bereit, Euch dieses Geld zu überlassen, wenn Ihr Euer Versprechen haltet.«
»Noch mal dreihunderttausend?«, wunderte sich Bao-Pao.
Den Hüter der Weisheit jedoch lockte der Köder. »Und wann, sagst du, würde er zahlen?«
»Sobald ich ihm den Eigentumsnachweis und eine Kopie des Urteilsspruches vorlege, aus dem hervorgeht, dass das Grundstück nicht belastet ist.«
»Ohne die Klausel der Enteignung …« Der Hüter tat, als dächte er nach. Schließlich rief er einen Schreiber herbei und trug ihm auf, eine Kopie des Originalurteils anzufertigen.
»Mit dem Datum von heute«, forderte Ci.
Der Justizbeamte presste die Lippen zusammen. »Mit dem Datum von heute«, bestätigte er.
Erleichtert atmete Ci auf, als man ihm das signierte Dokument überreichte. Er hielt nun den Beweis für die Legalität der Transaktion mit dem Reisherrn in Händen. Doch als er sich nach dem Zeitpunkt der Freilassung seines Bruders erkundigte, wurde der Hüter seltsam schmallippig.
»Ich empfehle dir, dein Glück nicht zu sehr zu strapazieren. Bring mir das Geld, und ich verspreche dir, dass ich ihn freilassen werde.«
Ci wusste, dass der Hüter ihn anlog, doch er gab sich gutgläubig.
»Ich danke Euch sehr. Zuvor muss ich mich allerdings um die Bestattung meiner Eltern kümmern.«
»In Ordnung, aber denke auch daran, dass du eine Schwester hast, der etwas zustoßen könnte.«
* * *
Die Beerdigung wurde ein schneller und einfacher Abschied. Zwei Diener Bao-Paos fuhren die beiden Särge, jeden auf einem Wagen, bis zum Berg der Letzten Ruhe, wo die Toten des Dorfes üblicherweise bestattet wurden. Ci wählte einen Ort für das Elterngrab, wo früh die Morgensonne schien und der Wind in den Bäumen wisperte. Als die letzte Schaufel Erde die Särge vollständig bedeckte, wusste Ci, dass seine Zeit im Dorf abgelaufen war. Unter anderen Umständen hätte er versucht, das Haus wieder aufzubauen, hätte sich als Hilfsarbeiter im Reisfeld verdingt, und nach Ende der Trauerzeit hätte er Kirschblüte geheiratet. Nach ein paar Jahren, wenn seine Kinder und seine Ersparnisse es ihm erlaubt hätten, wäre er nach Lin’an zurückgekehrt, um an der Kaiserlichen Prüfung zum Richter teilzunehmen und um einen guten Ehemann für Mei Mei zu suchen. Doch augenblicklich war Flucht seine einzige Option. Im Dorf erwartete ihn nichts weiter als der Zorn des Reisherrn und der Hass der Dorfbewohner.
Er verneigte sich ein letztes Mal vor dem Grab seiner Eltern und bat ihre Geister, ihn und Mei Mei auf ihrem weiteren Weg zu
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