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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Zähnen daran machte, die Verletzung zu untersuchen.
    »Er hat Glück, dass die Sehnen nicht betroffen sind. Aber der Schnitt ist tief. Die Wunde muss genäht werden«, erklärte Ci.
    »So. Und wie sollen wir das anstellen, Herr Doktor? Sie mit einer Schnur zusammenbinden?«, knurrte Wang.
    »Wie weit ist es bis zum nächsten Dorf?«, fragte Ci unbeirrt.
    »Wenn du da einen Wunderheiler aufsuchen willst, vergiss es. Ich traue diesen Quacksalbern nicht.«
    Ci nickte. Er wusste, dass die Bauern den Heilern misstrauten, die ihren Beruf vom Vater erbten wie einen alten Korb. Besser angesehen, wenngleich viel schwieriger zu findenwaren Ärzte, die nicht nur mit Pflanzen, Tees und Salben arbeiteten, sondern sich auch auf die Akupunktur und die Moxa-Therapie verstanden. Erst wenn sie einen Kranken für unheilbar erklärten, begab man sich in die Hände eines Heilers – eines Alchemisten, Hellsehers und Scharlatans, wie böse Zungen sagten, dessen rudimentäre Kenntnisse der Chirurgie in Konflikt mit den konfuzianischen Regeln standen, die das Aufschneiden eines Körpers kategorisch untersagten. Die Wenigen, die sich in das Gebiet der Chirurgie vorwagten, wurden darum als »Schänder« stigmatisiert. Trotzdem hatte Ci in den Jahren der Zusammenarbeit mit Feng gelernt, dass sich die Eingeweide, die Knochen und das Fleisch eines Menschen nur wenig von denen des Schweins unterschieden.
    Als Ci die Wunde öffnen wollte, um sie zu untersuchen, hielt Wang ihn zurück.
    »Vorsicht! Hinkend ist er mir lieber als tot!«
    »Im Dorf habe ich die Wunden unseres Büffels versorgt«, beruhigte ihn Ci. »Ze ist ein großer, kräftiger Mann, der Unterschied wird nicht allzu groß sein …«
    Mit einem Stöhnen ermunterte Ze ihn, weiterzumachen. Er wusste, dass er bis Fuzhou keine andere Hilfe bekam als die, die Ci ihm leisten konnte.
    Ci säuberte die Wunde mit abgekochtem Tee und entfernte die Fasern der Hose, die noch in der Wunde klebten. Der Schnitt verlief vom Knie parallel zum Schienbein bis etwa eine Handbreit über dem Knöchel. Es beunruhigte ihn, wie tief der Schnitt war und wie stark Ze blutete. Als er die Wunde fertig gespült hatte, bat er Wang, ans Ufer zu fahren.
    »Das ist alles? Bist du schon fertig?«
    Ci schüttelte den Kopf. Er hatte weder Nadel noch Seidenfaden zur Hand, doch einmal hatte er der Untersuchung einesToten beigewohnt, dessen Wunden mit Hilfe von Großkopfameisen zugenäht worden waren. Er erklärte Wang, was er vorhatte.
    »Sie leben im Schilf und sind leicht zu finden«, sagte Ci.
    Wang spitzte die Lippen. Alles, was er von diesen Biestern wusste, war, dass ihr Biss einen Toten zum Leben erwecken konnte.
    Obwohl er Ci nicht ganz traute, willigte er ein, die Barkasse zum Ufer zu lenken.
    An einem gelblichen Flussdelta warfen sie den Anker aus, an einem Zufluss, der sich wand wie eine Schlange im Todeskampf. Der ockerfarbene Schlamm hob sich deutlich vom Grün der Binsengräser ab, die wie ein dichter Wald wucherten.
    Ci ging von Bord, und bald hatte er die kleinen Hügel aus trockenem Lehm ausgemacht, die versteckt im Binsendickicht die Nähe eines Ameisenhaufens verrieten. Er kniete sich neben die ersten Insekten, die schon gegen sein Bein anstürmten, und versenkte seinen Arm vollständig in einem der Hügel. Lehmbeschmiert und bedeckt mit Ameisen, die ihre übergroßen Kiefer wütend in den Arm bohrten, der ihre Ruhe gestört hatte, zog er ihn wieder heraus. Ci freute sich ausnahmsweise einmal, dass er den Schmerz nicht spürte. Er sammelte die Insekten eins nach dem anderen ein und setzte sie vorsichtig in eine Flasche, die er mit einem Tuch abdeckte, bevor er zur Barkasse zurücklief.
    Wang deutete auf Cis Unterarm, auf dem immer noch einige Ameisen herumirrten, und versuchte sie wegzuwischen.
    »Bei allen Drachen, Junge! Spürst du denn nicht, wie sie beißen?«
    »Doch, natürlich«, log Ci. »Sie beißen wie wild.«
    Mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt, seine seltsame Gabe vor Fremden zu verstecken. Als er klein war, hatte seine Unempfindlichkeit gegen Schmerzen die Bewunderung der Nachbarn erregt, und sie hatten an seiner Wiege Schlange gestanden, um mit eigenen Augen zu sehen, wie er den Kniffen in seine Pausbacken und den Verbrennungen der Moxa-Therapie klaglos widerstand. Doch in der Schule änderte sich alles. Die Lehrer wunderten sich, was für Schläge er einstecken konnte, ohne einen einzigen Schmerzenslaut, und die anderen Kinder beneideten diese eigenartige Fähigkeit, die ihn

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