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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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auszeichnete. Nach und nach versuchten sie zu beweisen, dass auch dieses Kind sich beschweren würde, wenn man es nur genug quälte. Die Spiele wurden immer brutaler, erst ohrfeigten sie ihn nur, später schlugen sie ihn regelrecht zusammen. Mit der Zeit lernte Ci zu simulieren, und sobald er die kleinste Berührung spürte, jaulte er und schrie, als habe man ihm den Kopf mit einem Stein eingeschlagen.
    Er schüttelte die Ameisen zurück auf den Flaschenboden, die versuchten, aus der Flasche zu fliehen, und sah Ze an.
    »Bist du bereit?«
    Der Bootsmann nickte.
    Ci nahm das erste Insekt zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand und führte es vorsichtig an den Rand der Wunde heran, die er gleichzeitig mit der linken Hand zusammenpresste. Ze verzog das Gesicht vor Schmerz, verfolgte Cis Manöver jedoch mit einiger Verblüffung. Beim Kontakt mit der Haut biss die Ameise zu und verschloss damit die beiden Wundränder. Sofort riss Ci ihr den Hinterleib ab, so dass nur der Kopf stecken blieb, und fischte nach einem zweiten Insekt. Die nächste Ameise setzte er etwas weiter unten an. Er wiederholte diesen Vorgang auf der ganzen Länge der Wunde.
    »Fertig!«, rief er schließlich zufrieden. »In zwei Wochen reißt du die Köpfe heraus. Das ist ganz einfach. Bis dahin wird die Wunde vernarbt sein und …«
    »Dieser Trottel soll das selbst machen?«, mischte sich Wang ein. »Und wie stellst du dir das vor?«
    »Na ja … Er muss nur eine Messerschneide benutzen.«
    »Nicht im Traum, Junge. Du wirst ihn jetzt nicht alleinlassen.«
    »Ich … verstehe nicht … Ihr sagtet doch, Ihr würdet uns im ersten Dorf absetzen.«
    »Wenn ich das gesagt habe, dann vergiss es. Und glaub ja nicht, dass du als Gast mitfährst. In seinem Zustand kann Ze nicht rudern, und ich allein kann das Boot nicht fahren, also wirst du seinen Platz einnehmen, bis wir Lin’an erreichen.«
    »Aber Herr, ich …«
    »Keine Widerrede. Verstanden?«
    Ci nickte, während der Bootsführer kehrtmachte und seinen Platz am Steuer einnahm. Trotz seines mürrischen Gebarens wusste Ci, dass der alte Wang Mei Mei und ihm soeben das Leben gerettet hatte.
    * * *
    In der kommenden Woche trennte sich Ci keinen Moment von seiner Schwester. Trotz seiner Gebete bekam sie Fieber, und obwohl die Arznei Erleichterung brachte, fürchtete er, dass sie ausgehen könnte. Sobald sie in Lin’an ankämen, würde er sich als Erstes mit genug Medizin eindecken, um sie gesundzupflegen.
    Wenn er nicht neben Mei Meis Lager saß, arbeitete er hart. Er ruderte kräftig, putzte das Deck und sicherte die Fracht, geschützt durch ein Paar dicke Handschuhe, die Zeihm geliehen hatte, um die Dielen anzupacken. Ab und zu bat Wang ihn, die Tiefe des Flusses zu prüfen oder einen Ast aus dem Weg zu räumen, doch er brauchte ihn nicht oft, da die Strömung die Barkasse vorantrieb. Eines Tages putzte er gerade das Deck, als Wang nach ihm rief.
    »Vorsicht, Junge!«, zischte er und deutete auf einen Frachtkahn mit zwei Männern und einem großen Hund, die sich von der Seite her näherten. »Deck das Mädchen zu und halt den Mund!«
    Ci hörte sofort auf zu putzen, warf seiner Schwester eine Decke über und nahm das Ruder.
    »Ist jemand mit Namen Song Ci an Bord?«, rief einer der Männer. Sein Gesicht war von Narben durchzogen.
    »Ci? Was ist das denn für ein blöder Name?« Wang lachte.
    »Beschränk dich darauf, zu antworten, oder du wirst meinen Stock zu spüren bekommen!« Der Mann zeigte das Abzeichen, das ihn als Gerichtsfahnder auswies. »Mein Name ist Kao. Wer ist bei euch an Bord?«
    »Ich bedaure«, entschuldigte sich der Bootsführer. »Ich heiße Wang, geboren in Zhunang. Der Hinkende ist Ze, mein Bootsmann. Wir fahren mit einer Ladung Reis nach Lin’an, die …«
    »Es interessiert mich nicht, wohin ihr fahrt. Wir suchen einen Jungen, der aus Jianyang kommt. Wir glauben, dass er ein krankes Mädchen bei sich hat …«
    »Ein flüchtiger Verbrecher?« Wang tat besorgt.
    »Er hat Geld gestohlen. Und wer ist das?« Kao deutete mit dem Kopf auf Ci.
    Wang zögerte einen Moment, bevor er antwortete. Ci fasste das Ruder fester und bereitete sich darauf vor, sich zu verteidigen.
    »Das ist mein Sohn. Warum?«
    Der Beamte musterte ihn abfällig von oben bis unten. »Geh zur Seite. Ich komme an Bord.«
    Ci biss sich auf die Lippen. Wenn sie den Kahn inspizierten, würden sie Mei Mei finden, aber wenn er versuchte, es zu verhindern, wäre sein Schicksal ebenfalls besiegelt. Er musste sich

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