Der Totenleser
Nur wenige Schritte von ihm entfernt inspizierte ein von einem riesigen Hund begleiteter Justizbeamter mit pockennarbigem Gesicht die Leute und überprüfte nacheinander die Eltern und ihre Kinder. Es war Kao, der Fahnder, der ihn suchte. Zweifellos wusste er überdie Krankheit seiner Schwester Bescheid und erwartete ihn hier. Wenn der ihn entdeckte, würde er nicht noch einmal das gleiche Glück haben wie auf dem Boot.
Noch bevor er den Rückzug antreten konnte, sah Ci, wie sich der Hund näherte, um an ihm zu schnuppern. Es mochte Zufall sein, aber es war auch möglich, dass er ihn mit Hilfe eines aus dem Dorf mitgenommenen Kleidungsstücks aufgespürt hatte. Vergeblich bemühte er sich, den Atem anzuhalten, doch die Bestie knurrte. Ci verfluchte sie. Es war nur eine Frage der Zeit, dachte er, bis der Fahnder aufmerken würde. Der Hund knurrte wieder, umkreiste ihn und berührte mit der Schnauze seine Hand. Ci wollte sie wegziehen und davonrennen, aber in diesem Moment merkte er, dass das Tier seine Finger leckte.
Er atmete auf und ließ den Hund gewähren, bis er das Interesse verlor. Dann wechselte Ci unauffällig zur Gruppe der Verkrüppelten hinüber. Er hatte es fast geschafft, als eine Stimme ihn zusammenzucken ließ.
»Halt!«
Er gehorchte sofort, das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
»Wenn die Medizin für ein Kind ist, reihen Sie sich wieder auf der anderen Seite ein!«, tönte es durch das allgemeine Geschrei.
Ci beruhigte sich. Es war ein Angestellter gewesen, der längst wieder in eine andere Richtung sah. Doch als er sich erneut umwandte, blickte er direkt in Kaos flammende Augen. Ci flehte innerlich, dass er ihn nicht erkannte.
Es verging eine unendliche Sekunde, bis der Fahnder losbrüllte.
Als der Hund zum Sprung auf seine Kehle ansetzte, ergriff Ci die Flucht. Panisch rannte er aus der Apotheke und hetzte durch das Gedränge die Straße hinunter, wobei er so vieleHindernisse wie möglich zu Boden riss,um dem Tier die Verfolgung zu erschweren. Er musste den Kanal erreichen, sonst war alles aus. Einigen Karren ausweichend, rannte er über die Brücke. Ein Speiseölverkäufer, mit dem er zusammenstieß, ließ bittere Flüche auf ihn niederprasseln, weil sich seine gesamte Ware über den Boden ergoss. Zum Glück rutschte der Hund auf dem Öl aus, so dass Ci einen Vorsprung gewann. Doch als er sich schon fast in Sicherheit glaubte, stolperte er und fiel hin. Das Buch seines Vaters entglitt ihm. Er wollte danach greifen, aber wie aus dem Nichts tauchte ein Ganove auf, packte es und verschwand blitzschnell in der Menge. Ci machte Anstalten, ihm zu folgen, doch das Gebrüll des Fahnders brachte ihn von diesem Vorhaben ab. Rasch setzte er seine Flucht fort. An einem Stand für Ackergeräte ließ er eine Hacke mitgehen und rannte weiter auf den Kanal zu, den er bereits zum Greifen nah vor sich sah. Er rannte zu einem leeren Boot, um es zur Flucht zu benutzen, aber als er das Seil lösen wollte, holte der Hund ihn ein und stellte ihn vor einer Mauer. Außer sich vor Wut fletschte das Tier die Zähne und schnappte nach ihm. Ci war gefangen. Er drehte sich um und sah Kao kommen. Noch einen Augenblick, dann hatte er ihn gefasst. Ci hob die Hacke und ging in Abwehrbereitschaft. Das Tier spannte die Muskeln. Ci schloss die Finger fest um den Stiel und tat einen ersten Hieb, dem der Hund auswich. Wieder hob er die Hacke, doch die Bestie stürzte sich auf sein Bein und schlug ihm die Zähne in die Wade. Ci sah, wie die Reißzähne in das Hosenbein drangen, aber er spürte keinen Schmerz. Mit aller Kraft ließ er die Hacke herabsausen, und der Schädel des Hundes knirschte. Ein zweiter Treffer bewirkte, dass das Tier seine Beute losließ. Entsetzt blieb Kao stehen. Ci lief zum Kanal, ließ die Hacke fallen und sprang, ohne zu überlegen, in das faulige Wasser. Er tauchte untereinem leck geschlagenen Frachtkahn hindurch und klammerte sich keuchend auf der anderen Seite an den Holzrand des Bootes. Er sah, dass der Fahnder die Hacke in der Hand hielt und ihn zu erreichen suchte. Ci tauchte abermals unter und schwamm zum Bug des Kahns. Lange konnte er dieses Spielchen nicht aushalten. Früher oder später würde Kao ihn erwischen. Plötzlich vernahm er die Alarmrufe, die vor dem Öffnen der Schleusen warnten, und er dachte daran, wie gefährlich es war, im Wasser zu bleiben, wenn die Tore aufgingen. Und doch war dies seine einzige Chance.
Ohne zu zögern, löste er die Hände von seinem Halt und ließ sich von der
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