Der Totenleser
Strömung mitreißen. Das Wasser schoss auf die Schleuse zu, ein unwiderstehlicher Sog erfasste ihn, wirbelte ihn herum wie eine Nussschale, zog ihn hinab und schleuderte ihn wieder hoch an die Oberfläche. Nachdem er das erste Tor heil hinter sich gelassen hatte, drohte er nun zwischen den in das Becken hereingespülten Booten zerquetscht zu werden. Verzweifelt schwamm Ci in Richtung des anderen Tores. Als die Flutwelle gegen die Schleuse klatschte, gelang es ihm, sich an einem losen Tauende, das von der Staumauer herabhing, festzuhalten. Während die Boote im Becken gegeneinanderdrängten und ihn allmählich einkeilten, stieg der Wasserspiegel rasch an. Mit Hilfe des Seils versuchte Ci, die Staumauer zu erklimmen. Doch sein rechtes Bein versagte ihm den Dienst.
Die Bissverletzungen waren offenbar schwerwiegender, als er vermutet hatte.
»Verdammtes Vieh!«, entfuhr es ihm.
Er stützte sich mit dem linken Bein ab und schob sich die Einfassungsmauer hoch. Als er oben angelangt war, erblickte er Kao, der wild gestikulierend am anderen Ende der Schleuse stand und fluchte.
»Du kannst dich verstecken, wo du willst. Hörst du? Ich werde dich kriegen, lebendig oder tot! Und wenn es das Letzte ist, was ich auf dieser Welt mache!«
Ci zog es vor, sich nicht mit einer Antwort aufzuhalten. Verwundert sahen ihm die Leute nach, wie er sich völlig durchnässt und hinkend entfernte und ins Gewühl eintauchte.
12
Während er sich durch die weniger frequentierten Nebengassen schleppte, fluchte Ci über sein Unglück. Um die Medizin zu kaufen, musste er nun einen der privaten Kräuterläden aufsuchen, wo man ihm mit Sicherheit das letzte Geld abnehmen würde. Vor dem ersten, der sich auftat, blieb er stehen. Es war ein dunkles, auf den Handel mit Wurzeln und medizinischen Heilmitteln spezialisiertes Geschäft. Obwohl sonst keine Kundschaft da war, musterten die Inhaber ihn von oben bis unten, als wäre er ein Stadtstreicher. Ci kümmerte sich nicht weiter darum. Nachdem er das Medikament verlangt hatte, tuschelten die beiden Männlein untereinander und ließen sich dann über dessen Seltenheit und die Schwierigkeiten der Beschaffung aus. Schließlich teilten sie ihm mit, dass der Preis für eine Handvoll gemahlenes Pulver volle achthundert Qian betrage.
Ci versuchte zu feilschen, denn sein gesamtes Kapital beschränkte sich auf die hundert Münzen, die ihm der alte Professor auf dem Büchermarkt gegeben hatte. Er band den Gürtel auf.
»Ich brauche keine Handvoll. Ein Viertel davon reicht mir«, sagte er und legte die Schnur mit den Münzen auf den Verkaufstisch,der förmlich überquoll von Wurzeln und Blättern, getrockneten Pilzen, Samen, Schoten, zerschnittenen Keimlingen und Mineralien.
»Das wären dann zweihundert Qian. Und hier sehe ich nur hundert«, antwortete einer der beiden ablehnend.
»Das ist alles, was ich habe. Aber es sind immerhin einhundert Qian.« Er sah sich um und tat, als überlegte er. »Ihr Laden scheint nicht so gut zu laufen. Besser, Sie verdienen etwas als gar nichts.«
Die Männer blickten sich ungläubig an.
»Davon abgesehen, dass ich das Mittel in der Großen Apotheke umsonst bekommen könnte«, fügte Ci angesichts ihrer Gleichgültigkeit hinzu.
»Sieh mal, mein Junge«, sagte der etwas kräftiger gebaute, während er das Medikament nahm und wegräumte, »der Trick ist älter als das Kaiserreich. Wenn du diese Wurzel für weniger Geld besorgen könntest, hättest du es längst getan. Also: Entweder du rückst die zweihundert Qian raus oder du verschwindest wieder dahin, wo du hergekommen bist.«
Ci machte einen letzten Versuch. Er zog die Schuhe aus.
»Hier, die sind aus gutem Leder. Hundert Qian plus die Schuhe. Mehr habe ich nicht.«
»Wirklich, Junge. Glaubst du, dass wir solche Latschen brauchen? Ich bitte dich! Hau ab!«
Einen Augenblick lang erwog Ci, das Medikament zu schnappen und wegzurennen, aber sein verletztes Bein hielt ihn davon ab. Als er den Kräuterladen verließ, war er derart verzweifelt, dass er auf die Frage nach seiner Zukunft geantwortet hätte, diese sei zusammen mit seinen Eltern unter den Trümmern ihres Hauses begraben worden.
* * *
In den übrigen Kräuterläden wurde er ähnlich behandelt. Im letzten, den er aufsuchte, einer heruntergekommenen Bude in der Nähe des Hafenmarktes, wollte man ihn mit einem Pulver aus gemahlenem Bambus übers Ohr hauen. Zum Glück hatte er das Mittel oft gekauft und kannte seinen herben Geschmack und seine schmierige
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