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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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spendete.
    »Du kannst mich nicht beeindrucken, Junge. Den Trick habe ich schon öfter gesehen.«
    »Den Trick?« Ci begriff nicht.
    »Ihr lernt ein paar Absätze auswendig und gebt euch als Studenten aus, aber ich bin nicht erst seit gestern Professor. Und nun verschwinde von hier, bevor ich die Wache rufe.«
    »Fragt mich! Fragt mich, was immer Ihr wollt, mein Herr!«, bettelte Ci und reichte ihm das Buch.
    »Wie bitte?«
    »Was immer Ihr wollt«, wiederholte er trotzig.
    Der Mann schüttelte den Kopf, doch weckte Ci offenbar Neugier in ihm. Er schlug den Band zufällig auf einer Seite auf, las und hob den Blick.
    »Schön, du Schlaumeier. Von der Einteilung der Tage …«
    Ci holte tief Luft. Seit Monaten hatte er diesen Abschnitt nicht mehr gelesen. Komm schon, erinnere dich, mahnte er sich selbst.
    Der Gelehrte wippte ungeduldig mit dem Fuß. Gerade wollte er ihm das Buch zurückgeben, als Ci loslegte.
    »In Übereinstimmung mit dem Kaiserlichen Kalender ist der Tag in sechsundneunzig Einheiten unterteilt. Ein Arbeitstag umfasst die sechs Stunden zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Die Nacht nimmt weitere sechs Stunden ein, so dass jeder Tag insgesamt zwölf Stunden misst. Ein gesetzliches Jahr besteht aus dreihundertsechzig ganzen Tagen, doch das Alter eines Menschen rechnet man nach derAnzahl der seit der Eintragung seines Namens und seiner Geburt ins Melderegister vergangenen Jahre des jeweiligen Zyklus …«
    »Aber wie …?«, unterbrach ihn der Professor verblüfft.
    »Ich betrüge Euch nicht, mein Herr. Das Buch gehört mir. Doch für fünftausend Qian kann es Euch gehören.« Er sah, dass der Lehrmeister unschlüssig war. »Meine Schwester ist krank, ich brauche das Geld. Bitte.«
    Der Mann betrachtete das sorgfältig gebundene Werk, jeder Pinselstrich von Hand gemalt wie bei einem schönen Bild. Der Stil der Zeichen war schwungvoll, rührend, poetisch. Er seufzte, als er es zuklappte, und gab es Ci zurück.
    »Ich bedauere. Es ist wirklich großartig, doch ich kann es dir nicht abkaufen.«
    »Aber warum? Wenn es am Preis liegt, gehe ich damit herunter. Ich gebe es Euch für viertausend, für dreitausend Qian, mein Herr.«
    »Lass es gut sein, Junge. Wenn ich es vorher gesehen hätte, hätte ich es sicher gekauft, aber ich habe mich bereits dem Händler gegenüber verpflichtet. Und mein Wort ist mehr wert als jeder Nachlass, den du mir anbieten könntest. Außerdem wäre es nicht in Ordnung, deine Notlage auszunutzen und dich dieses Kunstwerks zu berauben.« Als er Cis enttäuschtes Gesicht sah, überlegte er einen Moment. »Ich weiß, was wir machen: Nimm diese hundert Qian und behalte dein Buch. Man merkt, dass es dir weh tut, es zu verkaufen. Und was das Geld angeht, sei nicht gekränkt. Betrachte es als ein Darlehen. Du gibst es mir wieder, wenn du deine Probleme gelöst hast. Ich heiße Ming.«
    Ci wusste nicht, was er sagen sollte. Obwohl er sich schämte, nahm er die Münzen und fädelte sie auf die Schnur um seinen Bauch. Dabei versprach er, den Betrag vor Ablauf einerWoche mit Zinsen zurückzuzahlen. Der Alte nickte lächelnd und setzte seinen Weg fort.
    Ci steckte das Buch ein und eilte zur Großen Apotheke von Lin’an, der einzigen öffentlichen Einrichtung, wo er das benötigte Medikament für weniger als einhundert Qian bekommen konnte. Die Große Apotheke befand sich im Stadtzentrum und besaß nicht nur das umfassendste Sortiment, sondern spendete den Bedürftigen auch Almosen. Allerdings musste man nachweisen, dass man das Medikament wirklich benötigte.
    Das war das Problem. Wenn der Kranke nicht persönlich in der Apotheke erschien, musste der Familienangehörige, der ihn vertrat, entweder ein ärztliches Rezept vorlegen oder den vollen Preis des Medikaments bezahlen. Aber wenn er schon kein Geld für die Medizin hatte, wie zum Henker sollte er dann die Honorare eines Arztes aufbringen? Trotzdem blieb er bei seinem Plan, denn er wollte nicht gemeinsam mit seiner Schwester erscheinen und Gefahr laufen, von einem der Angestellten erkannt zu werden.
    Vor der Großen Apotheke stieß er auf einen Haufen empörter Familien, die sich über die schlechte Behandlung beklagten. Ci nahm nicht den normalen Eingang, sondern steuerte auf die Almosenausgabe zu, wo die Kranken sich in zwei Gruppen drängten. Die eine bestand aus Krüppeln, die andere aus Wanderarbeitern und ihren herumwimmelnden Kindern.
    Ci hatte sich gerade der zweiten Gruppe zugesellt, als sein Herz einen Schlag aussetzte.

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