Der Totenleser
die auch er gesetzt hatte, einen leichten Vorsprung gewann. Doch als die blaue Grille schon von allen zum Sieger erklärt worden war, rückte die Favoritin des Hellsehers auf einmal mit ungewöhnlichem Tempo vor, überholte die andere und erreichte das Ziel schließlich als Erste.
Die Versammelten rieben sich erstaunt die Augen.
»Du Hundesohn! Du hast uns hereingelegt!« brüllte der Hüne schließlich.
Obwohl der Riese drohte, ihm den Schädel einzuschlagen, blieb der Wahrsager unbeeindruckt. Er nahm die gelbe Grille und hielt sie ihm unter die Nase. Ihr fehlte tatsächlich ein Vorderbein.
»Und jetzt verschwindet von hier, oder ich rufe den Wachmann«, fauchte er und hob die Hand zum Pfiff.
Der Hüne ließ sich von dem Männlein nicht einschüchtern und versetzte ihm einen Stoß, bei dem die Grille zu Boden fiel, und bevor sie fliehen konnte, zertrat er sie mit dem Fuß. Dann spuckte er aus, schwor dem Wahrsager, dass er sich seinen Verlust zurückholen werde, und entfernte sich unter Drohungen. Die übrigen Teilnehmer nahmen ihre Grillenund gingen ebenfalls fort. Allein Ci blieb neugierig neben dem Verkaufstisch stehen, als wartete er darauf, dass irgendetwas ihm half, das Rätsel zu lösen. Wie hatte der Gaukler das nur angestellt?
»Und du, verschwinde auch«, sagte das Männlein.
Ci rührte sich nicht. Er brauchte das Geld dringend und war überzeugt, dass es bei dem Spiel nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Obwohl er ganz deutlich gesehen hatte, wie der Wahrsager der Grille das Bein ausgerissen hatte, mussten seine Augen ihn doch getrogen haben. Und genauso verwunderte es ihn, dass der Wahrsager nicht wutentbrannt gewesen war, als der Hüne seine siegreiche Grille zerquetschte, sondern recht gleichmütig verfolgt hatte, was dem Tier geschah, das ihn reich gemacht hatte.
Als der Gaukler ihm den Rücken zuwandte, nutzte Ci die Gelegenheit und hockte sich neben das Insekt, das noch immer mit den Beinen strampelte. Da lenkte etwas Glänzendes unter dessen Körper seine Aufmerksamkeit auf sich.
Gerade wollte er die Sache untersuchen, da drehte sich der Wahrsager wieder zu ihm um. Er zögerte keine Sekunde, blitzschnell streckte er die Hand nach der Grille aus und steckte sie unbemerkt ein.
»Darf man erfahren, wieso du da rumkriechst? Ich habe dir gesagt, du sollst abhauen.«
»Mir ist ein Apfel heruntergefallen«, log Ci und hob eine auf dem Boden liegende Frucht auf. »Aber ich habe ihn schon gefunden. Gleich bin ich weg.«
»Halt! Was versteckst du da?«
»Wo?« Ci versuchte Zeit zu gewinnen.
»Mach mich nicht wütend, Kleiner.«
Humpelnd trat Ci ein paar Schritte zurück, bevor er herausfordernd sagte: »Ich denke, du bist Hellseher.«
Der Alte runzelte die Stirn. Er schien zu überlegen, ob er Ci für die Frechheit ohrfeigen sollte, doch stattdessen fing er an, dümmlich zu kichern. Er baute weiter seinen Stand ab, ohne sich darum zu scheren, dass Ci ihn beobachtete. Als er fertig war, lud er sein Zeug in einen Wagen und zog ihn in Richtung einer nahe gelegenen Kneipe.
Ci blieb allein zurück und betrachtete die Grille. Das Insekt bewegte sich nicht mehr, so dass er mit dem Fingernagel vorsichtig das kleine glänzende Blättchen ablösen konnte, das an seinem Bauch klebte. Als er es in der Hand hielt, musterte er eingehend, was ihm wie ein einfacher Eisensplitter mit Leimresten auf einer Seite vorkam. Die Oberfläche war geglättet, und man sah, dass der Rand zurechtgeschliffen worden war, um ihn der Körperform des Tieres anzupassen. Er verstand nicht, wozu das Teil diente. Auf den ersten Blick schien es eher ein zusätzliches Gewicht zu bedeuten, das das Insekt mit Sicherheit verlangsamte, denn ein Hilfsmittel.
Er rätselte immer noch über dessen Nutzen, als ihm das Metallstückchen plötzlich aus den Fingern sprang und sich an das Messer heftete, das er im Gürtel trug. Ci riss erstaunt die Augen auf. Dann erinnerte er sich an die Gestalt des Labyrinths.
»Verdammter Bastard. So macht er es also.«
Er wickelte die tote Grille in ein Tuch und begab sich zu der Kneipe, die der Wahrsager betreten hatte.Vor der Tür bewachte ein Junge den Verkaufsstand des Alten. Ci fragte ihn, was er für die Arbeit bekomme, und das Kind zeigte ihm ein paar Bonbons.
»Ich gebe dir einen Apfel, wenn du mich etwas nachschauen lässt«, schlug Ci ihm vor.
Der Junge überlegte.
»Einverstanden. Aber nur angucken.« Und schon streckte er die Hand aus.
Ci gab ihm den Apfel und wandte sich sofort dem
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