Der Totenleser
seine Arme und machte dasselbe bei Mei Mei. Das Mädchen hatte die ganze Nacht gehustet. Zweifellos tat das Medikament seine Wirkung, aber er brauchte mehr davon, um die Behandlung fortzusetzen. Zum Glück schien die Salbe, die ihm der Wahrsager für die Wunden an seinem Bein gegeben hatte, auch bei den Schnitten auf seiner Brust zu helfen. Er band sich die Schnur mit den Münzen um den Bauch und forderte Mei Mei auf, sich fertig zu machen. Die Kleine gehorchte, legte ihre feuchten Schlafsachen zusammen und zog ihre Hanfschuhe an.
»Heute bleibst du bei Mondlicht. Sie wird auf dich aufpassen.Benimm dich also anständig und mach, was sie dir sagt.«
»Ich könnte ihr beim Aufräumen helfen«, schlug Mei Mei vor. »Die Wohnung ist sehr unordentlich.«
Ci lächelte zustimmend. Dann warf er sich sein Bündel über die Schulter, und gemeinsam stiegen sie die Treppe hinunter. Mondlicht saß an der Rezeption und putzte ein paar Kupfergefäße.
»Du gehst schon?«, erkundigte sie sich schüchtern.
»So ist es. Ich muss einige Dinge klären. Was das Geld betrifft …«
»Darum kümmert sich mein Vater. Er ist draußen und jätet Unkraut.«
»Gut, dann bis später. Wenn du Hilfe brauchst, Mei Mei ist ein braves Mädchen. Sie kann dir bestimmt zur Hand gehen, oder?«
Die Kleine nickte stolz.
»Wann kommst du zurück?«, fragte Mondlicht, ohne ihn anzusehen.
»Gegen Abend, nehme ich an. Hier. Erzähl es nicht deinem Vater.« Er gab ihr ein paar Münzen, dann blickte er zu seiner Schwester. »Sie hat ihre Medizin schon bekommen, sie wird dir also keine Probleme bereiten.«
Mondlicht verneigte sich, und Ci erwiderte den Gruß.
Vor dem Haus traf er den Gastwirt an, der gerade einen Berg Müll entleerte. Ci zog seine Leinenjacke fester um sich und grüßte ihn höflich. Der Wirt blickte kurz auf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu, als wäre nur ein Hund vorbeigekommen.
»Zieht ihr aus?«, rief er, als Ci sich bereits entfernt hatte.
»Nein. Wir bleiben noch ein paar Tage.«
»Hör mal zu. Ich weiß nicht, was du dir vorgestellt hast,aber das Zimmer kostet Geld.« Er musterte ihn geringschätzig. »Mehr, als du besorgen kannst.«
»Ich finde einen Weg. Geben Sie mir nur ein paar Tage …«
»Unsinn!«, stieß der Wirt hervor. »Hast du dich mal angesehen? In deinem Zustand bist du doch nicht mal in der Lage, alleine zu pissen.«
Ci atmete schwer. Das Schlimmste war, dass der Mann recht hatte. Er wühlte in seinen Taschen, und nachdem er die Summe für die nächsten Medikamentenkäufe abgezogen hatte, bot er ihm den Rest als Bezahlung an.
»Das reicht ja nicht mal, um unter einem Baum zu schlafen.« Doch er nahm die Münzen und steckte sie ein. »Ich gebe dir noch einen Tag.Wenn du mir das Geld heute Abend nicht bringst, fliegt ihr morgen raus.«
Ci verfluchte sein Unglück. Wenn doch bloß Feng in der Stadt wäre! Aber schon im Dorf hatte der Richter ihm mitgeteilt, dass er mehrere Monate im nördlichen Grenzgebiet zu tun habe. Also nickte Ci dem Gastwirt zu und stapfte durch die überschwemmten Straßen in Richtung Kanal. Es wollte nicht aufhören zu regnen, das Wasser benetzte seine Wunden, doch das machte ihm nichts aus. Er musste Arbeit finden. Um jeden Preis.
An der Kaiserlichen Universität von Lin’an, so hoffte Ci, werde er irgendeinen Bewerber treffen, der Privatstunden brauchte. Er hatte sich ein wenig hergerichtet, um seine Verletzungen zu verbergen, aber wenn er Schüler finden wollte, benötigte er zuerst die Eignungsbescheinigung, einen Nachweis also nicht nur über die absolvierten Studien, sondern auch über den Werdegang der Eltern und über ihre unwiderlegbare Ehrenhaftigkeit.
* * *
Als er aus dem Boot stieg, sah er eine Heerschar von Studenten aus allen Gegenden des Kaiserreichs lärmend auf das Haupttor der Universität zuströmen. Ci musste schlucken. Dann holte er tief Luft und betrat den Vorplatz. Unzählige junge Leute bemühten sich dort um eine Zulassung zu den staatlichen Prüfungen, ihrem Schlüssel zum Ruhm.Während ihn die graue Schlange der Anwärter verschluckte, blickte Ci sich aufmerksam um.
Es war alles unverändert: die Wege mit den Absperrseilen, die die Bewerber wie Vieh durch die Gärten leiteten, vorbei an endlosen, akkurat wie Dominosteine angeordneten Reihen von Ständen aus lackiertem Bambus. Mit scharfen Augen und Rute in der Hand beobachteten Wachmänner das Treiben. Sie sollten die Taschendiebe abschrecken, die sich dort tummelten wie hungrige Fische auf der
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