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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Jagd nach Brotkrumen, aber auch den Schwarm von Händlern im Blick haben, die Reis und Tee, Pinsel, Tinte und Bücher feilboten.
    Als Ci an der Reihe war, spürte er ein Brennen im Magen. Er trat vor und betete, dass sich ihm kein Problem in den Weg stellen möge.
    Der Beamte vor ihm blickte ihn an, ohne den Kopf zu heben, so als wäre die tief in die Stirn gezogene Seidenkappe aus Stein und nicht aus Stoff. Ci schrieb seinen Namen auf einen Zettel und legte ihn auf den Tisch. Der Mann notierte einige Zahlen in einer Liste und sah gleichgültig zu ihm auf. Dann verengten sich seine Augen.
    »Geburtsort?«
    »Jianyang, Präfektur Jianningfu, in der Provinz Fujian. Aber die Prüfungen habe ich hier in Lin’an gemacht.«
    »Und trotzdem kannst du nicht lesen?« Er wies auf die Tafeln, die Aufgaben und Lage der verschiedenen Ständebezeichneten. »Du musst zum Rektorat der Universität gehen. Diese Schlange ist nur für Auswärtige.«
    Ci biss sich auf die Lippen. Er wusste, dass er im Rektorat keine Chance hatte.
    »Kann ich den Antrag nicht hier stellen?«, beharrte er.
    Ohne sich zu einer Antwort herabzulassen, blickte der Beamte an Ci vorbei und gab dem hinter ihm Wartenden ein Zeichen, vorzutreten.
    »Bitte. Ich brauche …«
    Jemand schubste ihn, und ihm blieben die Worte in der Kehle stecken. Niedergeschlagen trat er beiseite und überlegte, ob er das Risiko auf sich nehmen sollte, das Rektoratsgebäude zu betreten. Nach dem Zusammentreffen mit Kao in der Großen Apotheke konnte ein derart exponierter Ort für ihn zur Falle werden. Doch am Ende blieb ihm nichts anderes übrig. Er ballte die Fäuste und machte sich auf den Weg.
    Als er die Schwelle zum Palast der Weisheit überquerte, wurde ihm beklommen ums Herz. Hunderte Male war er durch diese Gärten gegangen, hatte die Unterrichtszimmer mit der gleichen Freude betreten, mit der ein Kind ein Bonbon entgegennimmt, nachdem es seine Lektion aufgesagt hat. Hier hatte er seine Träume und Hoffnungen zurückgelassen, und nun schritt er nach so langer Zeit wieder vorbei an den bedrohlichen Drachen, die den Eingang flankierten und dort postiert schienen, um die Unwissenden abzuschrecken.
    Der Lärm der Studenten holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
    An den Wänden der Flure listeten zahlreiche in makelloser Schönschrift geschriebene Bogen die in diesem Jahr verlangten Voraussetzungen auf. Nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte, stieg er hinauf bis zum Großen Saal im erstenStock, wo ein Beamter mit freundlichem Gesicht Dienst tat. Ci erklärte ihm, dass er das Eignungszertifikat brauche.
    »Für dich?« Er betrachtete ihn mit halbgesenkten Lidern.
    Ci sah sich nervös um.
    »Ja.«
    »Hast du hier studiert?«
    »Ja, Rechtswesen.«
    »Sehr schön. Brauchst du die einzelnen Abschlüsse oder nur den Nachweis?«
    »Beides.« Ci füllte das Formular mit seinen Angaben aus.
    Mühsam entzifferte der Beamte es. Dann blickte er auf und nickte.
    »In Ordnung. Ich muss damit noch in ein anderes Büro. Warte hier«, sagte er zu Ci.
    Als der Mann zurückkehrte, wirkte er verändert. Kopfschüttelnd betrachtete er die Dokumente in seiner Hand.
    »Es tut mir leid«, sagte er schließlich. »Ich kann den Nachweis nicht ausstellen. Deine Zensuren sind hervorragend, aber die Ehrenhaftigkeit deines Vaters …« Er verstummte.
    »Mein Vater? Was ist mit meinem Vater?«
    »Lies selber. Bei einer Routineüberprüfung vor sechs Monaten wurde festgestellt, dass er in dem Verwaltungsbezirk, in dem er arbeitete, Gelder veruntreut hat. Das schlimmste Vergehen für einen Staatsdiener. Obwohl er aus Trauergründen beurlaubt war, wurde er degradiert und entlassen.«
    * * *
    Während er mit unsicheren Schritten das Zimmer verließ, überflog Ci hastig den Bericht. Er brauchte dringend frische Luft. Die Papiere glitten ihm aus den zitternden Händen und verteilten sich über den Boden. Sein Vater … wegen Diebstahlsverurteilt … Deshalb also hatte er sich geweigert, nach Lin’an zurückzukehren! Feng musste es ihm bei seinem Besuch erzählt haben.
    Auf einmal bekam alles einen dramatischen Sinn, das plötzliche Schweigen und die Verbitterung seines Vaters. Ci fühlte sich betrogen und innerlich beschmutzt. Schwindel erfasste ihn, und ihm wurde schlecht. Fluchtartig stürzte er die Treppe hinunter.
    Verloren irrte er durch die Gärten, prallte gegen Studenten und Lehrer, als wären sie wandelnde Standbilder. Er stolperte gegen einen Büchertisch und stieß ihn um. Als er das Missgeschick

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