Der Totenleser
wiedergutmachen wollte, fing der Händler an, ihn zu beschimpfen, und er antwortete ihm mit gleicher Münze. Ein Wachmann wurde aufmerksam und kam herbei, um den Vorfall zu klären, aber Ci konnte noch rechtzeitig verschwinden.
Ängstlich blickte er sich, während er das Gelände verließ, unablässig nach allen Seiten um. Doch niemand scherte sich um ihn, so dass er unbemerkt in das nächste Boot steigen konnte, das zwischen der Universität und dem Festplatz verkehrte. Er tastete nach der Schnur um seinen Bauch, an der nur noch zweihundert Qian hingen. Das war alles, was ihm geblieben war, nachdem er die Überfahrten bezahlt und Mondlicht dafür entlohnt hatte, dass sie sich um Mei Mei kümmerte. Er steuerte einen illegalen Kräuterladen an und besorgte sich einen Fiebersaft. Als er die letzte Münze von der Schnur gelöst hatte, begriff Ci, dass er am Ende war. Sein Traum, an der Universität bei einem der wohlhabenden, von Prüfungsangst geplagten Studenten Arbeit als Nachhilfelehrer zu finden, war zerplatzt. Trotzdem brauchte er Geld für Unterkunft und Essen, und zwar spätestens bis heute Abend.
Er musste unbedingt Arbeit finden. In Gedanken entwarf er eine Liste der Dinge, die er gut zu können glaubte, und strich von ihr alles, wofür ihn niemand bezahlen würde. Als er die fertige Liste noch einmal durchging, kam er zu dem Schluss, dass er ein Nichtsnutz war. Auf einem Markt, auf dem es von Tagelöhnern wimmelte, halfen ihm seine Rechtskenntnisse nicht einmal, einen essbaren von einem giftigen Fisch zu unterscheiden. Dazu beherrschte er kaum eine andere körperliche Tätigkeit als die des Bauern, und in seinem angeschlagenen Zustand zweifelte er, ob er genug Kraft hätte, um sich als Lastenträger zu verdingen. Trotzdem betrat er, nachdem er an mehreren Stellen abgewiesen worden war, ein Salzlager und bat darum, dass man ihm eine Chance gab.
Der Angestellte, der ihn empfing, sah ihn an, als hätte man ihm einen lahmen Esel zum Kauf angeboten. Er berührte Cis Schultern, überlegte, wie viel er schaffen würde, und zwinkerte seinem Gehilfen zu. Dann stieg er eine Leiter hinauf und wies Ci an, sich darunter zu stellen.
Als das erste Paket auf seinen Rücken fiel, knackten seine Rippen wie dürre Zweige. Beim zweiten ging er in die Knie und stürzte unter der Last vornüber.
Die beiden Männer brachen in Gelächter aus. Danach hob der größere von ihnen die Pakete hoch, stieß Ci weg, als wäre er auch nur ein Sack mit Salz, und nahm seine Arbeit gleichmütig wieder auf.
Keuchend schleppte Ci sich zurück auf die Straße. Er spürte keinen Schmerz, aber die Nachwirkungen seiner Verletzungen schränkten seine Kondition deutlich ein. Obwohl er wusste, dass er schwerlich eine Anstellung finden würde, ohne Mitglied in einem der Berufsverbände zu sein, die noch die niedrigste Tätigkeit kontrollierten, klapperte er weiter Läden, Werkstätten, Lagerhäuser und Kais ab, doch er fandniemanden, der ihm Arbeit gab, nicht einmal, wenn er nur Essen als Bezahlung verlangte.
Das verwunderte ihn kaum. Wenn außer Verbrechern und Hungerleidern etwas in Lin’an im Überfluss vorhanden war, dann waren es kräftige junge Kerle, die bereit waren, sich für ein erbärmliches Schälchen Reis von früh bis spät zu schinden.
Selbst die städtische Einrichtung für das Einsammeln von Exkrementen, deren Trupps täglich die Kanäle absuchten, um den Kot an die Bauern zu verkaufen, verweigerte ihm eine Anstellung. Er bat den diensthabenden Beamten um einen Tag zur Probe, an dem er nur für die Verpflegung arbeiten werde. Aber der Mann schüttelte den Kopf und zeigte auf die vielen anderen, die sich wie er mit Bettelei durchschlugen.
»Wenn du Scheiße sammeln willst, musst du sie erst selbst produzieren.«
Ci verschwendete keine Mühe auf eine Erwiderung, sondern schluckte seinen Ärger einfach hinunter. Er bog in eine im rechten Winkel abgehende Seitenstraße der Allee des Kaisers und lief ohne bestimmtes Ziel weiter, bis er plötzlich außerhalb der Stadtmauern stand. Er streunte eine Weile herum, als laute Schreie, die aus einem Winkel hinter den Befestigungsanlagen drangen, seine Aufmerksamkeit auf sich lenkten.
Unter einem schmutzigen Zeltdach hielten mehrere Personen ein halbnacktes Kind fest, das sich zur Belustigung der Anwesenden mit Händen und Füßen wehrte. Die Schreie des Jungen wurden noch schriller, als ein mit einem Messer bewaffneter Mann zu ihm trat.
Ci begriff sofort, dass es sich um eine Kastration
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