Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
Vermögen mit Immobilien gemacht und viel für Overtown getan, unter anderem hatte er den Bau der Baptistenkirche Mount Zion mitfinanziert. Joes Großvater hatte gesagt, jeder Schwarze solle danach streben, ein klein wenig wie D.A. Dorsey zu werden: erst sich selbst helfen und dann, wenn die eigenen Taschen voll waren, den Menschen um einen herum einen Teil davon zurückgeben.
Das Haus war seit langem verlassen und baufällig. Die Haustür und alle Fenster waren vernagelt, die weiße Farbe war grau und rissig geworden und blätterte von den Wänden. Stellenweise war Graffiti verschiedener Gangs zu sehen.
Vor dem Haus hing eine Horde Jugendlicher auf dem Gehweg herum, sie rauchten und tranken Alkohol aus Flaschen, die in braunen Papiertüten steckten. Sie musterten Joe von oben bis unten, erkannten ihn sofort als Polizisten und zischten einer nach dem anderen ab, lässig und langsam, mit leicht schiefem Gang, bei dem der linke Arm deutlich tiefer schwang als der rechte.
»Ja, genau, verpisst euch«, brummelte Joe vor sich hin. Sie hatten keine Ahnung, was es mit dem Haus, vor dem sie gestanden hatten, auf sich hatte.
Joe betrachtete das traurige alte Gebäude mit dem Gerümpel unter der Veranda und den zerbrochenen Dachpfannen auf dem Rasen. Eigentlich müsste es in Overtown ein Denkmal für Dorsey geben, aber die Stadt würde dafür kein Geld springen lassen – und überhaupt, wer würde es besichtigen wollen? Kein Mensch kam freiwillig nach Overtown, solange er hier nicht wohnte, eine Rechnung zu begleichen oder ein Verbrechen zu begehen hatte. Früher war das anders gewesen, aber die Zeiten waren lange vorbei.
Overtown war eines der ältesten Stadtviertel Miamis. In den 1930er-Jahren hatte es Colouredtown geheißen. Und sein Vernügungsviertel, genannt der Strip oder Great Black Way auf der North West 2nd Avenue, hatte sich mit dem Harlems messen können, nicht zuletzt wegen des Lyric Theatre, Miamis eigener Version des Apollo, wo all die Großen gespielt hatten. Joes Großvater hatte Nat King Cole, Cab Colloway, Lady Day, Josephine Baker und viele andere im Lyric gesehen. Die Cola Nip Bottling Company hatte in Overtown ihren Sitz gehabt, es hatte Hotels, Lebensmittelgeschäfte, Friseurläden, Märkte und Nachtklubs gegeben. Es war ein lebendiges Viertel gewesen, und ein glückliches, wohlhabendes noch dazu – so glücklich und wohlhabend, wie es Schwarzen in Zeiten der Rassentrennung zu sein erlaubt war.
Absurderweise war es nach der Aufhebung der Rassentrennung mit Overtown abwärts gegangen. Es hatte einen langsamen Exodus der Geschäftsleute und der Intelligenten gegeben, die in andere Stadtviertel umzogen. Dann hatten die Stadtoberen dem Viertel einen Pfahl in Form des I95-Expressway mitten ins Herz gerammt. Die Schnellstraße führte quer durch Overtown und versetzte dem bereits zerbrechenden Gemeinschaftsgefühl den Todesstoß. Heutzutage war das Viertel kaum noch vorhanden und leicht zu übersehen, weil die Menschen auf dem Weg in die Innenstadt oder zum Strand buchstäblich darüber hinwegdonnerten.
Joe spürte seine Wut. Wut auf die Stadt und auf die Welt, in der er lebte, und vor allem Wut auf sich selbst, weil er seine Gefühle hinter seiner Dienstmarke und der Uniform versteckte. Er hatte weggeschaut und den Mund gehalten, als er eigentlich mit dem Finger darauf hätte zeigen und sich die Lunge aus dem Leib schreien müssen. Um seiner beschissenen Karriere willen hatte er das Spiel der Weißen mitgespielt und verloren. Selbst Stevie Wonder hätte das kommen sehen. Er hatte das Gefühl, dafür bestraft zu werden, wie er sein Leben gelebt hatte – und für all die Millionen Dinge, die er nicht getan hatte. Er hatte seine Leute im Stich gelassen. Er hatte zugesehen, wie sie Prügel und Erniedrigungen einsteckten, die sie nicht verdient hatten, und er hatte nicht einen Finger gerührt und nicht einmal die Stimme gehoben, um zu protestieren. Er hatte für rassistische Bullen gelogen, die ihn ganz genauso behandelt hätten, hätte er keine Uniform getragen. Er hätte Rückgrat zeigen und das Richtige tun können, aber er hatte es unterlassen, weil er geglaubt hatte, diesen Job mehr zu brauchen als seine Seele und die Pension dringender als seinen inneren Frieden. Wieder musste er an seinen Großvater denken, der ihn damals vor dem Haus der Dorseys bei der Hand gehalten und ihm seine Werte zu vermitteln versucht hatte. Joe hatte ihn verraten.
Und selbst jetzt – wem machte er etwas vor mit dem,
Weitere Kostenlose Bücher