Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
ihn zusammengeschlagen?«
»Er wollte abhauen«, log Max. »Wir haben ihn aufgehalten.«
»Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils«, sagte Sandra.
»Er wollte abhauen«, beharrte Max und sah ihr gerade in die Augen, genau wie er es bei Simmons Anwalt getan hatte, als der vor Gericht den gleichen Vorwurf erhob. »Wir haben getan, was wir unter den gegebenen Umständen tun mussten.« Max hatte fürs Erste genug von der Analyse seiner bisherigen beruflichen Vergangenheit und brauchte dringend eine Pause. »Darf ich auf deinem Balkon rauchen?«
»Nur zu.«
Sie ging mit ihm nach draußen. Es war noch warm, und eine frische Brise raschelte durch die Baumkronen in der Nähe. Einen großartigen Ausblick hatte sie nicht gerade, nur Apartmenthäuser direkt gegenüber, die fast alle dunkel dalagen, und dahinter Calle Ocho, die so gut wie ausgestorben war. Es war sehr viel ruhiger als am Ocean Drive, wo anscheinend niemand je schlafen ging, solange es noch einen Streit auszutragen oder Prügel zu verteilen gab.
»Weißt du, jeden Morgen, wenn ich aus dem Haus gehe, weiß ich, dass es irgendwo ein armes Schwein gibt, das gerade genau das Gleiche tut, aber nicht wieder zurückkommen wird«, sagte Max. »Er gerät in die Schusslinie zweier rivalisierender Banden von Kokain-Cowboys, oder irgendwelche Jugendlichen schießen ihn über den Haufen, nur um zu sehen, wie er in die Luft fliegt. Da sind wir hingekommen mittlerweise: Thrill kills , die Leute töten aus Spaß oder um damit anzugeben. Und jedes Mal bleibt eine Familie zurück, die zu mir schaut, weil sie eine Antwort braucht, weil sie von mir erwarten, dass ich die Dinge in Ordnung bringe. Und das ist mein Job. Dafür habe ich unterschrieben. Die Dinge wieder in Ordnung bringen.
Ich weiß, dass ich, was das große Ganze angeht, nicht viel ausrichten kann. Den Idealismus des Anfängers habe ich hinter mir. Die Verbrechensrate steigt, sie sinkt nicht. Die Waffen werden immer größer und immer potenter, sie fassen immer mehr Kugeln, töten immer mehr Menschen. Aber letzten Endes, wenn ich der Ehefrau oder dem Ehemann eines Ermordeten ein klein wenig Seelenfrieden verschaffen kann, wenn ihre Kinder in dem Wissen aufwachsen können, dass das Schwein, das ihren Vater oder ihre Mutter umgebracht hat, tot ist oder lebenslänglich im Gefängnis sitzt, dann ist es das wert. Und das hält mich bei der Stange, auch wenn ich manchmal wirklich müde bin. Das hält mich wach, in jeder Sekunde eines jeden Tages.«
Sie sagte nichts, trat ein klein wenig näher an ihn heran und legte den Kopf auf seine Schulter, und so standen sie schweigend da, während er aufrauchte.
Sie gingen wieder hinein und redeten weiter. Persönliches, Banales. Sie scherzten und lachten viel. Max konnte sich nicht erinnern, sich je glücklicher, entspannter und wohler gefühlt zu haben als bei Sandra.
Und dann fragte sie ihn, was ihm beim Mittagessen auf der Seele gelegen hatte.
Er zögerte eine Sekunde und dachte darüber nach, dass er seine Arbeit noch nie in sein Privatleben getragen hatte, dass er sich bei allen Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, immer geweigert hatte, irgendetwas zu erzählen. Er hatte immer alles für sich behalten, und am Ende hatten sie ihn allein mit all dem zurückgelassen: mit den Dingen, die nie erwähnt worden waren. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er Sandra in seinem Leben haben wollte, mehr als alles andere, und er wollte, dass sie blieb.
»Gestern wurden Joe und ich zu einem mehrfachen Mord in Overtown gerufen. Eine ganze Familie war erschossen worden. Sechs Leichen. Und da war dieses junge Pärchen. Sie hielten sich bei den Händen. Und wie sie dalagen, konnte man sehen, dass die Frau zuerst erschossen worden war, und der Mann hatte sich einfach neben sie gelegt und ihre Hand genommen. So ist er gestorben.«
»Er konnte ohne sie nicht leben«, sagte Sandra.
»Genau das habe ich auch gedacht. Er muss sie wirklich geliebt haben. Buchstäblich die Liebe seines Lebens. Und ich habe auch gedacht …«, aber er brach ab, weil ihm klar wurde, wie krank das klingen würde, was er hatte sagen wollen.
»Was?«
»Du willst das nicht wissen.«
»Max.« Sandra nahm seine Hand. »Wir sind beide erwachsen, und wir wissen beide, was hier passiert. Wenn wir irgendeine Art von Beziehung haben werden, dann eine, in der es um Nähe und Ehrlichkeit und Offenheit geht. Du wirst mir erzählen, was du erlebt hast am Tag, und ich werde dir von meinem Tag erzählen. Ich möchte
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