Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
hatte einen großen Kundenkreis, darunter bettelarme Dorfbewohner, die für ihren Besuch zehn Tage Fußmarsch auf sich nahmen, genauso wie altgediente Minister und Damen der feinen Gesellschaft, die sich mit Auto und Chauffeur zu ihr kutschieren ließen. Es ging das Gerücht, sie habe in kürzester Zeit eine von Papa Docs Töchtern von der Homosexualität und eine andere von der Kurzsichtigkeit geheilt. Seit er laufen konnte, war Carmine ihr Hounci , ihr Assistent, gewesen. Er hatte ihr geholfen, die Kräuter zu pflücken und die Tiere auszunehmen, die sie für ihre Tränke brauchte, hatte daneben gesessen, wenn sie den Leuten aus Tarotkarten die Zukunft las, und als er alt genug geworden war, allein in der Stadt unterwegs zu sein, hatte er Nachrichten von den Lippen seiner Mutter zu den Ohren ihrer Kunden überbracht.
Seine Mutter weigerte sich, über seinen Vater zu sprechen. Je nach der Laune, in der sie sich gerade befand, wiegelte sie das Thema entweder ab, wenn sie spürte, dass es aufkam, und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, oder sie machte einfach dicht und schüttelte drohend den Kopf, oder aber sie wurde aggressiv. Das Einzige, was sie Carmine je über seinen Vater erzählt hatte, war, dass er ganz genauso ausgesehen hatte wie er und dass er ganz genauso gewesen war wie er, nur ein noch größerer Versager. Und auch das sagte sie nur, wenn sie mal wieder das bekam, was er als Monsterkoller bezeichnete: beängstigend heftige Tobsuchtsanfälle, denen sie sich ab und an hingab.
Carmine hatte nur wenige Erinnerungen an seinen Vater, die ihm aber lieb und teuer waren. Er hatte ihn als großen, gut aussehenden Mann im Gedächtnis, stets im schwarzen Anzug und mit Hut, trotz der Hitze. Er war sehr viel öfter zu Hause gewesen als seine Mutter, er hatte immer draußen gesessen und Zigaretten geraucht – Comme il faut , die haitianische Marke – und entweder in der Bibel oder in einem zerfledderten Reiseprospekt für Amerika gelesen. Er hatte immer davon geredet, dass sie eines Tages zusammen dort hinfahren würden, nur sie beide, Vater und Sohn. Vielleicht würden sie auch einfach dort bleiben und nie mehr zurückkommen. Er hatte Carmine das Versprechen abgenommen, seiner Mutter nichts davon zu erzählen, genau wie er ihm das Versprechen abgenommen hatte, noch ein zweites Geheimnis vor ihr zu wahren.
Seine Mutter war viel unterwegs, um ihre wichtigsten Kunden aufzusuchen. Oft war sie tage- oder wochenlang weg. In diesen Zeiten kamen alle möglichen Frauen ins Haus, um seinen Vater zu besuchen, meistens kamen sie nachts, aber ab und an auch tagsüber. Von dem Lärm, den sie im Schlafzimmer machten, wurde Carmine oft geweckt. Aber er beschwerte sich nie. Im Grunde musste er sogar darüber lachen. Er konnte sich noch gut erinnern, dass am Anfang viele verschiedene Frauen gekommen waren, aber dann nur noch eine, seine Favoritin. Sie hieß Lucita. Sie hatte hellbraune Haut und grüne Augen, genau wie sein Vater, und das gleiche weiche, lockige Haar, nur dass ihres länger war und ihr über die Schultern fiel, wenn sie es öffnete. Mit ihr sprach sein Vater Spanisch und nicht Kreolisch. Sie brachte Carmine jedes Mal Süßigkeiten mit, streichelte ihm über die Wange und fragte ihn, wie es ihm ginge. Und sie roch so gut, wie Marshmallows und französische Seife. Sie war seine erste Liebe.
Seine einzige Erinnerung an seine Mutter und seinen Vater als Paar war, wenn sie sich seinetwegen stritten. Sie war die Zuchtmeisterin im Haus, sie stellte die Regeln auf und prügelte ihn, wenn er nicht gehorchte. Sie hatte einen dünnen Stock mit mehreren getrockneten Knospenansätzen, der an den Enden geschält war. Wenn Carmine nicht parierte oder Widerworte gab, zog sie ihm den Stock über die Finger, was höllisch weh tat, oder versohlte ihm den Hintern und die Oberschenkel. Zumindest war das der Plan, aber wann immer es ihr in den Sinn kam, ihn zu schlagen, war ein Monsterkoller nicht fern, und wenn der sie übermannte, wechselte sie von dem Stock zu Fäusten und Füßen. Eines Tages hatte sie ihn verprügelt, weil er einen Botengang vergessen hatte. Zum allerersten Mal war sein Vater dazwischengegangen. Er war ins Zimmer gekommen, hatte sie von hinten gepackt und seine um sich schlagende und zeternde Frau ins Schlafzimmer getragen. Carmine hatte die beiden – na ja, mehr seine Mutter – eine Ewigkeit schreien gehört. Sie hatte seinen Vater angebrüllt, dass sie ihn hasste, dass Carmine genauso sei wie er,
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