Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
dass er aus ihrem Haus verschwinden und seinen Sohn mitnehmen solle. Und genau das hatte sein Vater getan. Gemeinsam hatten sie das Haus verlassen und waren nach Port-au-Prince gegangen. Dort hatte sein Vater ihn zu Lucitas Haus geführt. Er wusste nicht, wie lange sie dort gewohnt hatten – es war ihm lange vorgekommen, einen Monat vielleicht -, aber er war glücklicher gewesen als je zuvor zu Hause bei seiner Mutter. Genau genommen war es die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Sein Vater und Lucita waren mit ihm an den Strand gefahren, in die Dominikanische Republik, zum Karneval. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er mit anderen Kindern seines Alters gespielt, was seine Mutter ihm verboten hatte. Er wurde nie geschlagen. Und manchmal sang Lucita ihn abends in den Schlaf, mit Worten, die er zwar nicht verstand, aber die er dennoch liebte.
All das fand eines Nachmittags ein sehr plötzliches Ende, als mehrere bewaffnete Männer in einem langen, schwarzen Auto vor ihrem Haus vorfuhren. Sie hämmerten gegen die Tür und brüllten, sein Vater solle herauskommen, oder sie würden das Haus abfackeln. Sein Vater war zur Tür gegangen, sie hatten ihn gepackt, mitten auf die Straße gezerrt und ihn gezwungen, sich mit dem Gesicht nach unten hinzulegen. Einer der Männer hatte seinem Vater den Fuß auf den Kopf gestellt, während ein anderer seinen Rücken abgetastet und ihm mit einem dicken roten Filzstift ein Kreuz aufs Hemd gemalt und ihm genau an der Stelle eine Kugel in den Körper gejagt hatte. Carmine war schreiend aus dem Haus gelaufen. Er wollte seinen Vater bei den Händen nehmen und ihm hochhelfen, aber der wurde von Krämpfen geschüttelt, seine Arme und Beine schlugen auf den Boden ein wie die eines epileptischen Schwimmers, während unter ihm schaumiges Blut auf den Asphalt pulsierte. Carmine wusste noch sehr gut, dass sein Vater ihm etwas hatte sagen wollen, aber er hatte kein Wort herausgebracht, weil er den Mund voller Blut hatte. Als Carmine später auf der Straße in die Lehre gegangen war und mit Waffen vertraut gemacht wurde, hatte er erfahren, dass eine Kugel ins Herz ganz besonders schmerzhaft ist, weil das Gehirn in den letzten panischen Minuten alles Blut in die offene Wunde lenkt, um sie zu schließen und zu heilen, und dem Sterbenden so eine kurzen, aber grausamen Todeskampf beschert. Die Krämpfe verebbten, und das letzte Zeichen, dass sein Vater noch am Leben war, war das Zucken in der linken Gesichtshälfte, ein heftiges Reißen, von dem Carmine damals geglaubt hatte, es sei ein unsichtbarer Engel, der einen letzten Versuch unternahm, seinen Vater hochzuziehen, bevor es zu spät war. Die Männer packten Carmine, warfen ihn in den Wagen und fuhren davon.
Auf dem Weg brach ein Gewitter aus. Nichts war mit einem haitianischen Gewitter zu vergleichen. Eine Geräuschkulisse, als würden sämtliche Kriege im Himmel nun auf der Erde ausgetragen, Blitze hieben auf die Landschaft ein, der Donner grollte und knallte, gefolgt von sintflutartigem Regen. Die Mörder seines Vaters waren an den Straßenrand gefahren und stehengeblieben, bis es vorüber war. Carmine hatte aus dem Fenster geschaut, ob der Regen die Leiche seines Vaters ins Meer spülte. Er hatte nichts gesehen. Daraus schloss er, dass sein Vater ein guter Mensch gewesen war.
Sie brachten ihn zum Haus seiner Mutter. Die wartete schon in der Tür auf ihn und führte ihn ins Badezimmer. In der Mitte stand eine große, graue Metallwanne, gefüllt mit heißem Wasser und Dettol. Sie hatte ihn noch nie gebadet, das hatte immer sein Vater gemacht. Carmines Kleider waren voller Blut, und als sie ihm sagte, er solle sich ausziehen, antwortete er, er wolle sie anbehalten. Daraufhin holte seine Mutter ihren Stock hervor und sagte: »Tu, was ich dir sage, weil hier nämlich außer uns beiden niemand mehr ist. Nur du und ich, so lange, wie ich will. Und jetzt zieh dich aus und steig in die Wanne.«
Er begriff, dass er für den Moment keine andere Wahl hatte, als nachzugeben, und so tat er, wie ihm geheißen, ohne Protest und ohne zu klagen. Das war der Beginn ihrer Beziehung, die sich seither zu einer zwischen Tyrannin und Untertan entwickelt hatte, zwischen Herrin und Sklave, wobei die eine immer mächtiger und der andere nach und nach immer schwächer und unbedeutender wurde. Zumindest ließ er zu, dass es so aussah.
Als er acht oder neun war, verließen sie Haiti und gingen nach Miami. Die Erinnerung an seinen Vater geriet in den
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