Der Totenschmuck
offensichtlich zu Hause, Sweeney fuhr langsamer und parkte in der Kurve, versteckt hinter einer hohen Hecke.
Das Haus ihrer Großeltern war mittelgroß - für die Verhältnisse von Newport -, im viktorianischen Stil gebaut und nur einen Steinwurf vom Cliff Walk und den Villen in der Bellevue Avenue entfernt. Es hatte einen kleinen Hinterhof und Staudenbeete, die all die Jahre liebevoll von ihrer Großmutter gepflegt worden waren, und drinnen herrschte eine heimelige Gemütlichkeit, die Sweeney auch in anderen Häusern vorgefunden hatte, jedoch nie in solchem Ausmaß wie hier.
Ihr letzter Besuch lag gute fünf Jahre zurück. Die Beerdigung ihres Großvaters, drei Monate nachdem ihre Großmutter bestattet worden war, war der letzte Anlass gewesen. Das Haus schien noch so zu sein, wie sie es in Erinnerung hatte, obwohl sie in ihrer Kindheit meist im Sommer hierhergekommen war und die Beete in voller Blüte gestanden waren, die Luft warm und salzig gewesen war und sich auf den Straßen die Touristen gedrängt hatten. Dieses Haus war ein anderes, zu einer anderen Zeit.
Sie klingelte an der Tür und horchte auf die Schritte, die auf sie zusteuerten. Dann schloss die Inhaberin der Schritte mehrere Riegel auf, ließ die schwere Haustür zurückschwingen und starrte sie minutenlang überrascht an, bis sie so etwas wie eine Begrüßung herausbrachte: »Sweeney! Was …?«
»Ich war hier auf einer Hochzeit eingeladen und bin zu müde, um wieder nach Hause zurückzufahren. Wäre es okay, wenn ich heute Nacht hierbleibe?«
Sie umarmten sich nicht, berührten sich nicht einmal. Anna stellte ihr keine Fragen, sondern trat nur zur Seite, um sie eintreten zu lassen. Im Haus hatte sich nichts verändert, außer, dass es leerer wirkte. Aber Sweeney war sich nicht sicher, ob das nur an der Abwesenheit ihrer Großmutter lag oder ob tatsächlich ein paar Möbel fehlten. Es roch noch genau so wie in ihrer Erinnerung.
»Ja, dann komm rein und setz dich erst mal.«
Der Fernseher lief in dem kleinen Wohnzimmer neben der Küche. Es war ein recht kühler, unspektakulärer Raum, als Sweeneys Großeltern noch hier gewohnt hatten. Jetzt war es warm und unordentlich in dem Zimmer, aber irgendwie einsam.
Es war für eine Person eingerichtet worden, eine Person, die nicht oft Besuch bekam, und Sweeney musste an ein Tier denken, das Stroh und Stofffetzen für sein Nest um sich herum aufschichtete. Das Sofa stand dicht vor dem Kamin, die beiden Schaukelstühle, die sonst immer an der einen Wand standen, waren jetzt neben das Sofa gewandert - einer diente als Fußbank für einen Menschen, der andere als Bett für die große Maine-Coon-Katze, die auf dem Rücken lag und Sweeney gelangweilt musterte.
»Setz dich, setz dich«, sagte Anna und schaltete den Fernseher aus. Sie hatte zugenommen, trug Jeans und ein Sweatshirt und ihre stahlgrauen Haare waren kurz geschnitten, stoppelig und jungenhaft. »Möchtest du etwas essen?«
»Nein, ich habe gerade auf der Hochzeitsfeier gegessen.«
»Wessen Hochzeit?«
»Katie Swift.«
»Ah, ja. Das große Grundstück oben am Ocean Drive. Computer oder so was, stimmt’s?«
»Ich glaube. Ich bin mit ihr aufs College gegangen.«
»Was kann ich dir anbieten? Ich habe noch eine Flasche Wein in der Küche. Weißen.«
»Scotch?«
Anna zögerte. »Gern.« Sie ging in die Küche und Sweeney hörte sie rumoren, Schranktüren öffnen und wieder schließen. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen und versuchte sich daran zu erinnern, was ihre Großeltern an den Wänden hängen gehabt hatten. Nichts Interessantes - Obst und Blumen, vermutlich. Ihr Vater hatte stets bedauert, dass seine Eltern keinen gesteigerten Wert darauf gelegt hatten, womit sie die Wände geschmückt hatten.
»Das ist Kunst «, hatte er ihnen erklärt. »Keine Innendekoration, verdammt noch mal!«
Aber das Obst und die Blumen waren verschwunden, und Anna hatte gerahmte Märchenmotive in Aquarell aufgehängt, ein Bild zeigte Rotkäppchen unterwegs im Wald, ein Wolf - einen richtigen Wolf, keine vermenschlichte Version, wie Sweeney sie aus den Märchenbüchern ihrer Kindheit kannte - lugte hinter einem Baum hervor. Das Bild hatte etwas Düsteres und Unheilvolles an sich. Die Bäume wirkten unheimlich, beinahe lebendig. Rotkäppchen wirkte fast lächerlich naiv, den Blick Richtung Himmel gerichtet, die Beine leicht gekrümmt. Auf den anderen Bildern war Dornröschen zu sehen, ausgestreckt auf einem opulenten Bett, ein Auge einen
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