Der Totenschmuck
einem Mal viel jünger und Sweeney gab ihr spontan einen Kuss auf die Wange.
»Warum hast du das gerade gemacht?«
»Ich weiß auch nicht. Schlaf gut.«
Sweeney schloss ihre Schlafzimmertür und sah sich die Familienfotos und Nippsachen an. Auf dem Regal über dem Bett stand eine Teetassensammlung. Und auf der Frisierkommode standen die beiden Fotos, die, wie Sweeney meinte, Anna gehörten. Das eine zeigte Sweeneys Vater, aufgenommen, als er noch auf dem College gewesen war, das andere Julian, Annas Mann, der sie vor fast fünfzehn Jahren verlassen hatte.
Warum hatte Anna immer noch ein Foto von Julian? Sweeney hatte ihn zum letzten Mal kurz vor seinem Auszug aus
der New Yorker Wohnung gesehen. Er war dann mit der Tochter eines Maler-Freundes zusammengezogen. Sweeney erinnerte sich an seinen grauen Bart und seinen eindringlichen Blick.
Sie warf einen letzten Blick auf das Foto, dann löschte sie das Licht.
Fünfzehn
Als Sweeney am nächsten Morgen die Treppe herunterkam, hatte Anna schon Kaffee gekocht, und in der Küche duftete es nach Toast und Butter. Sie saßen in einvernehmlichem Schweigen beisammen und lasen Zeitung, bis Sweeney sich verabschiedete und sagte, sie wolle noch einen Spaziergang durch die Stadt machen, bevor sie wieder nach Hause fuhr.
»Aber nicht, dass du mir verloren gehst«, sagte Anna und winkte ihr.
Es war ein sonniger, feuchter Morgen, und auf den Fußwegen der Bellevue Avenue drängten sich Passanten, die früh die Zeitung kaufen oder frühstücken wollten. Sweeney schlenderte Richtung Touro Street und Touro Synagoge, bis sie den Colonial Jewish Cemetery von New England erreichte. Gegründet von Siedlern, die vor religiöser Unterdrückung geflohen waren, war Newport für jene Zeiten ungewöhnlich tolerant gewesen und hatte Juden, Quäker, Adventisten vom Siebenten Tage und andere Verstoßene willkommen geheißen, wo auch immer sie herkamen.
Sweeney sah sich auf dem kleinen Friedhof der Dreifaltigkeitskirche um und las die Inschriften der alten Grabsteine, von denen viele umgestürzt waren und flach auf der Erde lagen.
Einer stach ihr besonders ins Auge. Er gehörte einer Mary Cranston Gidley, die 1737 im Alter von vierundzwanzig Jahren gestorben war:
Groß ward ihre Zier denn gottgegeben
Strahlend auch in allen anderen Gaben
Bis zum Tag des Jüngsten Gerichts ist sie von uns gegangen
Ihre Seele wird die zu Staub geword’ne Hülle begleiten
Mit der Dreieinigkeit immerdar vereint
Zu leben mit Gott in Ewigkeit.
Wie oft bei Friedhöfen aus dieser Zeit, waren zahlreiche Grabsteine halb im Boden versunken, und viele Inschriften waren durch die Folgen des sauren Regens und den Zahn der Zeit unleserlich geworden. Sweeney, die die Inschriften immer abgepaust hatte, machte inzwischen nur noch Fotos, denn die aufwändige Paustechnik hatte schädliche Auswirkungen auf den Stein.
Das Beste hob sie sich bis zum Schluss auf. Als Kind war sie schon gerne auf der Suche nach Grabstätten durch Newport gelaufen, und sie erinnerte sich daran, wie sie auf den St.-Joseph’s-Friedhof, eher bekannt unter dem Namen Barney-Street-Friedhof, gestoßen war. Die Grabreihen standen dicht gedrängt auf einer kleinen Fläche, umgeben von einem schwarzen Eisenzaun. Den Eingang schmückte ein prächtiges keltisches Kreuz, zu Ehren der frühen irischen Siedler in Newport. Jetzt wuchsen Maiglöckchen und andere Stauden darum herum. An der Seite hatte früher ein Schulhaus gestanden, wo nun Bäume dem Rasen und den Gräbern Schatten spendeten. Sweeney blieb stehen und genoss die friedliche Atmosphäre, bevor sie sich dem Weg, der an der Steilküste entlangführte, zuwandte.
Der Pfad, der sich geradezu an die schroffe Küste klammerte und sich auf seiner unwirtlichen Route an den meisten Newporter Villen vorbei schlängelte, war an diesem späten Morgen noch leer und genoss noch eine letzte Woche lang seinen Frieden, bevor die Touristenströme kamen. Sweeney bog bei Narragansett auf den Weg und hielt sich forschen
Schrittes südwärts, kam an Salve Regina und The Breakers vorbei, der Residenz von Cornelius Vanderbilt, dem prachtvollen Roosecliff und dem Marble House, das Alva Belmont Vanderbilt gehört hatte.
Sweeney schmunzelte, als sie sich an viele andere Spaziergänge auf diesem Küstenweg erinnerte. Ihre Großmutter hatte auf tägliche Bewegung geschworen und jeden Morgen ihre Scotchterrier auf ihren Standardspaziergang mitgenommen, bevor sie auf ihrem Rückweg die Zeitung und die Donuts besorgt
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