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Der Totenschmuck

Titel: Der Totenschmuck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stewart Taylor
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wieder an ihn zu schmiegen. Für die Dauer eines irrationalen Augenblicks hatte sie geglaubt, er sei tot. So still war er, fast so, als ruhte sein Körper in Bewusstlosigkeit.
    Es war schwer zu glauben, dass seit dieser ersten Nacht nur ein Monat vergangen war. Sie waren mit ein paar Kommilitonen ausgegangen, aus dem Seminar über Trauerschmuck und aus einer anderen Veranstaltung, und waren irgendwann in Brads und Jaybees Wohnung gelandet. Sie hatten etwas getrunken, und Becca war auf dem Sofa eingeschlafen. Später war sie im Dunkeln aufgewacht und hatte eine Weile gebraucht, um sich zu erinnern, wo sie war und sich zu orientieren.
    Allmählich hatte sie gespürt, dass jemand sie beobachtete,
und als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hatte sie gesehen, dass es Jaybee war. Er hatte in dem Ledersessel gegenüber vom Sofa gesessen, in eine Decke gehüllt.
    »Ist alles in Ordnung?«, hatte sie ihn gefragt. Er hatte ihr das Gefühl gegeben, dass etwas nicht stimmte, weil er sie so angestarrt hatte, als hatte er sie damit aufwecken wollen.
    »Ja«, hatte er geflüstert. »Ich denke schon.«
    Sie setzte sich auf. »Was ist?«
    Er war zu ihr herübergekommen und hatte sich neben sie gesetzt. Sie war so schläfrig gewesen, dass sie zuerst die Panik in seinen Augen nicht bemerkt hatte. Er hatte sie angesehen und gesagt: »Bec, ich … in den letzten Wochen habe ich nachgedacht und ich denke, ich …«
    Plötzlich war sie hellwach gewesen, hatte ihn angeschaut und gewusst, was er hatte sagen wollen. Sie hatte es auch gefühlt, in den letzten Wochen hatte sich in ihrer Freundschaft etwas verändert. Ihr nettes Geplänkel war ernster geworden. Sie hatte ihn einmal im Seminar ertappt, wie er sie gemustert hatte, und als sie seinen Blick fragend erwidert hatte, war er rot geworden. Sie hatte ihn noch nie vorher erröten sehen.
    Sie hatte kein Wort gesagt. Wie war es passiert, wie hatten sie sich ohne Worte auf den Kuss geeinigt, hatte jeder sich vorgebeugt, bis sie sich berührt hatten, schwer atmend, überwältigt von ihren Gefühlen? Jaybee hatte ihr Gesicht nach dem Kuss gehalten und gesagt: »Wir können Brad nichts sagen.«
    »Nein.« Sie wussten beide, was Brad für Becca empfand, das bedurfte keiner Diskussion. Später war ihr klar geworden, dass auch Brads Gefühle für Jaybee geschont werden mussten. Sie hatte sich aus ihrer geheimnistuerischen, langjährigen Freundschaft nie einen Reim machen können. Einmal war sie in die Wohnung gekommen, als die beiden sich vor dem Fernseher auf die Couch gefläzt hatten, ihre Beine ineinanderverschlungen, Brads Hand auf Jaybees Kopf. Sie hatte sich darüber gewundert, und es blieb ihr auch weiterhin
ein Rätsel, seit sie angefangen hatten, Brad zu belügen mit dem, was sie taten und wo sie waren.
    Sie hatten alles vor Brad verheimlicht. Bis zu jener Nacht … Sie verscheuchte die Erinnerung. Sie mussten nur den Gedenkgottesdienst morgen hinter sich bringen … oder heute, bemerkte sie. Dann konnte alles wieder so werden, wie es vorher gewesen war.
    Sie streichelte seinen Arm, merkte, dass er auf die Berührung reagierte und sich leicht bewegte. Seit sie miteinander schliefen, kam Jaybee ihr irgendwie älter vor. Davor hatte sie so über ihn gedacht wie über ihre Brüder, seine Sexualität war für sie nur theoretisch und nicht greifbar gewesen, jetzt sah sie ihn an und war von seiner Männlichkeit überwältigt, von seinem langen Rücken und den kurzen Haaren, die an seinem Nackenansatz wuchsen. Plötzlich spürte sie, dass sie im Universum eine Entdeckung gemacht hatte, dass sie etwas von dem verstand, was die Menschen das tun ließ, was sie taten.
    War es möglich, dass auch andere Menschen das gespürt hatten, diesen Sog? Sicher, Beccas Eltern hatten das erlebt. Was immer es war, warum sie seit siebenundzwanzig Jahren zusammenhielten, es musste mehr als das Verschmelzen ihrer Körper, das Verlangen sein.
    Aus einem unerklärlichen Grund dachte sie an Sweeney. Jeder wusste, dass ihr Mann gestorben war, und Becca fragte sich, ob auch Sweeney das für ihren Verlobten empfunden hatte. Wie war sie in der Lage, weiterzugehen? Wie konnte sie? Wie konnte sie nur?
    Sie strich über seinen Rücken. »Jaybee?«, flüsterte sie. »Jaybee?«
    Er zuckte.
    »Jaybee?«, wisperte sie erneut. Aber er schnarchte, sein Rücken hob und senkte sich bei jedem Atemzug.

Siebzehn
    Wasser. Er ertrank. Er spürte, wie das kalte Wasser über seinem Kopf zusammenschlug, den Schmerz in seiner

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