Der Totenschmuck
Jedenfalls bindet die Person ihn fest, legt ihm den Schmuck um und stülpt die Tüte über seinen Kopf, und dabei geht vielleicht irgendwas schief. Wir wissen, dass er stark alkoholisiert war bei seinem Tod. Er ist betrunken, die Tüte sitzt zu stramm oder sonst etwas, und er stirbt. Dann weiß der andere nicht, was er machen soll und verlässt die Wohnung.«
»Nicht schlecht. Was ist mit der Theorie eines fremden Täters?«
»Möglich, dass er - in diesem Fall würde ich von einem Mann ausgehen - geplant hat, sich an seinem Opfer zu vergehen und alles dafür vorbereitet hat, also ihn gefesselt, die Plastiktüte über seinen Kopf gezogen hat, ihm der Schmuck in die Hände gefallen ist und er ihn dem Opfer angelegt hat, und dann, bevor er äh … du weißt schon, tun konnte, was immer er vorhatte, war vielleicht jemand vor der Tür und er ist nervös geworden, einfach durchgedreht. Also hat er den Burschen einfach auf dem Bett zurückgelassen, und er ist erstickt.«
»Auch nicht schlecht. Wonach sollen wir jetzt fragen?«
»Ob er schwul war, ob bekannt war, dass er sich Prostituierte bestellte.«
»Prostituierte … das ist eine gute Idee. Er könnte jemanden dafür bezahlt haben, so gefesselt zu werden, und dann …«
»Und dann ist etwas schiefgegangen, er musste dran glauben und das Mädel ist aus der Wohnung raus.«
»Ja«, sagte Marino. »Vielleicht solltest du ein paar von den Mädchen fragen, die uns manchmal helfen.«
»Gut, das mache ich morgen.«
»Was ist mit Drogen?«
»Zum Zeitpunkt seines Todes haben wir nichts gefunden, oder?«
»Nicht, soweit wir wissen«, entgegnete Marino genervt, »aber was ist mit der restlichen Zeit? Diese reichen Kinder werden in alle möglichen üblen Sachen verwickelt. Erinnerst du dich noch an den Typen aus der Universität vom letzten Jahr?«
»In Ordnung, ich überprüfe das noch mal.«
»Außerdem würde ich gerne wissen, warum weder auf dem Schmuck noch auf der Tüte Fingerabdrücke waren.«
»Der Mörder trug Handschuhe?«, sagte Quinn eine Spur zu sarkastisch.
»Ich weiß, dass der Mörder Handschuhe trug, aber was für welche? Lederhandschuhe, oder waren es Skihandschuhe?«
Quinn beschloss zu schweigen, bis sie den Campus erreichten.
»Was fragen wir die beiden jetzt?«, wollte Marino wissen und taxierte Quinn.
»Was sie über seine Freunde wissen, ob er mit jemandem verbandelt war, solche Sachen.«
Marino bog ab Richtung Wohnheim und wartete, bis einige Studenten die Straße überquert hatten, bevor er direkt vor dem Eingang parkte. An den Ecken des alten Backsteingebäudes rankte mattgrüner Wein empor und umrahmte die Fenster und Türen.
Quinn sah sich auf dem Vorplatz um. Es war ein warmer Tag, und die Knollen, die in die schmalen Beete gepflanzt worden waren, blühten seit kurzem. Er bückte sich, um an einer Hyazinthe zu riechen.
In dem Sommer nach seinem letzten Jahr an der Highschool hatte er für eine Landschaftsgärtnerei gearbeitet. Sie hatten einen Auftrag in Cambridge gehabt und in der Mittagspause hatte er den Hof überquert und sich auf eine Bank gesetzt, um sein Brot zu essen. Jemand hatte ein zusammengefaltetes Stück Papier zwischen zwei Latten in die Bank geklemmt. Es war eine Fotokopie des Gedichts »Ode an eine Nachtigall« von John Keats, und er hatte an Florence Nightingale gedacht. Er wusste zwar nichts über Florence Nightingale aus Adam, aber sah eine hübsche Frau ganz in Weiß vor sich. Er hatte das Gedicht im Englischunterricht in der Grundschule gelesen, meinte er, doch er erinnerte sich nicht mehr genau. Die Lektüre war nur eine von vielen Aufgaben gewesen, die die Erwachsenen ihm aufgetragen hatten.
Aber an jenem Nachmittag hier auf dem Vorplatz sitzend, hatte er das Gedicht wieder gelesen, und plötzlich - es war ein abrupter Bruch gewesen, deutlich getrennt von all den anderen folgenden Momenten - hatte er verstanden. Verstanden, dass der Dichter dem Gesang eines Vogels lauschte, und
verstanden, was der Gesang dem Dichter bedeutete. Er hatte die Luft tief eingeatmet, die auf einmal anders, kostbarer und reicher gewesen war.
In jenem Sommer war Quinn kurz davor gestanden, an die Universität von Massachusetts zu gehen. Er hatte sich sonst nirgendwo beworben, es nicht einmal in Erwägung gezogen. Allein, dass er aufs College gehen würde, war für seine Mutter derart unfassbar gewesen, dass er über diese schlichte Tatsache nicht hinausgekommen war. Doch seine Englischlehrerin hatte ein paar Mal im Laufe des
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