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Der Totenschmuck

Titel: Der Totenschmuck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stewart Taylor
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Quinn hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon Sweeney sprach. »Durch Blair wurde dieser Ausdruck erst richtig bekannt.«
    Sweeney deklamierte mit tiefer, seltsam unpersönlicher Stimme: »Siehst du dort jenen Tempel? Er ist / das fromme Werk von Männern, deren Namen / einst berühmt waren, aber itzt unbekannt / und vergessen sind. Sie liegen hier / begraben unter den Ruinen / der Vorwelt, hier, wo so mancher berühmte / Mann verwest. - Horch, wie der Wind bläst, wie es heult. / Mich dünkt, ich hörte nie ein so fürchterliches / Getöne. Thore krachen, Fenster schlagen / auf und zu, / und der traurige Vogel / der Nacht, der auf jener Thurmspitze wohnt, / krächzt laut und fürchterlich. Die dunklen Kreuzgänge,
/ diese schwarz gepflasterten und mit / Wappen und zerrißnen Waffenröcken/ behängten Wohnungen der Todten / schicken aus ihren niedern Gewölben / den Ton verstärkter und schrecklicher wieder zurück.«
    »Wahnsinn.« Ein Schauder kroch seine Wirbelsäule hinauf, er betrachtete die Grabsteine, die ihn umgaben und erspähte die Spitze eines Kirchturms auf einem nahe gelegenen Hügel. Das Gedicht wirkte wie eine Droge, die sein Blut erkalten ließ. »Die Wohnungen der Todten / schicken aus ihren niedern Gewölben«, wiederholte er innerlich in dem schweren Rhythmus der Verse.
    Er war enttäuscht, als sie sagte: »Das ist alles so melodramatisch. Aber Blair und die anderen Friedhofsdichter hatten es sich auf die Fahnen geschrieben, den Lesern Angst einzujagen. Diese Gedichte waren sehr evangelikal. Sie haben versucht, den Lesern zu vermitteln, wie furchtbar das Grab war, so dass sie …« Plötzlich verstummte sie verwirrt. »Das ist schon komisch.«
    »Was?«
    »Nichts, nur dass Brad und ich uns auch über Robert Blair unterhalten haben. Fast zwei Monate vor seinem Tod.« Sie schwieg einen Augenblick. »Wie dem auch sei, Orte wie der Mount Auburn sind geschaffen worden, weil die Menschen der Furcht einflößenden, puritanischen Sichtweise des Todes als etwas Schreckliches und Makaberes nichts mehr abgewinnen konnten. Es ging darum, einen friedlichen Ort zu schaffen, wo die Trauernden sich in der Natur aufhalten, sich besinnen und an den Verstorbenen zurückdenken konnten. Wie Sie sehen, wurde der Tod als eine Art bukolische, natürliche Erfahrung betrachtet, bei der man die Vögel singen hören und die Blumen riechen konnte. Durch diese Landschaft hier wurde die idealisierte Vorstellung des Todes wieder hervorgerufen.«
    Quinn holte tief Luft. Die Bedeutung ihrer Worte schlug bei ihm wie ein Blitz ein. Er konnte dieses Gefühl nicht in
Worte fassen und zitierte stattdessen das Gedicht, das er so oft gelesen hatte, und wunderte sich, wie gut er sich an den Wortlaut erinnerte.
    »›Umdunkelt lausch ich; ich hab manches Mal / Mich halbwegs in den leichten Tod verguckt, / Gab ihm erträumte Namen ohne Zahl, / Damit die Luft mein ruhiges Atmen schluckt; / Jetzt merk ich erst, wie köstlich Sterben ist, / Wenn mitternachts sich aller Schmerz verlor, / Da du dein Herz verströmst und ungehemmt / In solch Ekstase bist! / Du sängest weiter, und wär taub mein Ohr - / Ich ein Stück Rasen für dein Requiem.‹«
    »›Ode an eine Nachtigall‹?« Sie wirkte kein bisschen überrascht, das musste er ihr lassen. Quinn entschied, dass Personen, die auf Friedhöfen spontan Gedichte rezitierten, nichts Ungewöhnliches für sie waren.
    »Genau.«
    »Ich habe mich immer gefragt, was ›umdunkelt‹ bedeutet. Wer schreibt von der umdunkelten Drossel? Hardy, nicht wahr?«
    »Ich denke, es bedeutet, dass er im Dunkeln dem Gesang der Nachtigall lauscht.« Er war sich nicht sicher, aber das hatte er immer vermutet.
    Sweeney ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. »Ja, ich glaube, Sie haben Recht. Ich habe die ›Ode an eine Nachtigall‹ nie gemocht. Ich finde die Vorstellung eines unspektakulären Todes irritierend. Er sollte nicht so einfach sein. Er sollte ein Kampf sein, mit Tritten und Schreien, die sich an das Leben klammern.«
    »Ich finde, so kann man nur dann denken, wenn das Leben gut zu einem ist. Es gibt Menschen, die es so schwer haben, die so große Schmerzen haben, dass der Tod für sie eine Erlösung ist.«
    »Na ja, das hat sich wohl auch der gute alte Keats gedacht«, sagte Sweeney. »Ist sein Bruder nicht an der Schwindsucht gestorben, während er daran geschrieben hat?«

    »Das weiß ich nicht«, gestand Quinn. »Ich habe nicht besonders viel Ahnung davon. Ich weiß nur, dass es mir

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