Der Totenschmuck
Geschichten über die Familie, aber sie stammten aus einer späteren Periode ihres Lebens, und es ging darin stets nur um ihre karitative Arbeit.
»Belinda Putnam, die Witwe eines der bekanntesten Bostoner Geschäftsmänner, Charles D. Putnam, gründete ein Wohlfahrtsheim namens Hatty-Hope-Heim für ledige Mütter, was bei der tonangebenden Elite der Stadt große Bestürzung
auslöste«, lautete Henriettas Bericht. »Aber Belinda war eine unerschütterliche Frau, ihre damalige Lage war ihr stets gegenwärtig und sie wollte sicherstellen, dass gefallene Mädchen, die von ihren Familien verstoßen worden waren, einen Ort hatten, an dem sie Zuflucht finden konnten. Sie unterrichtete die jungen Mütter in verschiedenen Kunsthandwerken, und als ihre Babys geboren waren, kümmerte sie sich um die Adoption durch wohlhabende Familien.«
Sweeney las die Passage noch einmal. Sie schien ihre Theorie über Belinda Putnam zu bestätigen. Wenn sie am eigenen Leib erfahren hatte, wie es war, eine unverheiratete Mutter zu sein, gleichgültig, wie sehr sich alles zum Guten gewendet hatte, hatte ihr diese Erfahrung das Mitgefühl für die armen jungen Mädchen in ihrer verzweifelten Lage gegeben.
Im zweiten Buch wurde darauf verwiesen, dass Charles Putnam Mitglied des Gremiums der Mount-Auburn-Friedhofsleitung gewesen war. Das war interessant. Sweeney hatte nicht gewusst, dass die Putnams eine Verbindung zu dem Friedhof hatten. Aber die meisten prominenten Familien der Stadt waren natürlich in der einen oder anderen Weise damit verbunden gewesen.
Charles Putnam hatte 1863, wenige Monate vor seinem Tod, einen Brief geschrieben, in dem er seiner Besorgnis über die rasche Ausdehnung des Friedhofs Ausdruck verliehen hatte. In dem Buch hieß es weiter, dass auf dem Friedhof in jenem Jahr zahllose Arbeiter tätig gewesen waren. Die meisten von ihnen waren gerade aus Irland oder anderen Ländern angekommen, und sofern sie nicht in den Krieg geschickt worden waren, hatten sie neue Straßen anlegen und das Friedhofsgelände ausbauen müssen. Putnams Brief war abgedruckt: »Meine Herren. Ich kann für niemanden von uns einen Vorteil in dieser wilden Expansion sehen. Bald wird der Friedhof zu einer Touristenattraktion werden, auf dem sich die Besucher tummeln und die Gräber ansehen, als handelte es sich
um Kuriositäten. Es wird weder Ruhe für die armen Toten geben, die innerhalb der Tore beerdigt sind, noch für die armen Hinterbliebenen, die die Gräber besuchen.«
Charles Putnam hatte den Kampf verloren. Der Friedhof war in den Jahren nach seinem Tod stark vergrößert worden.
Sweeney lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ihre Augen waren müde vom Lesen. Sie war nicht viel weitergekommen. Was wäre, wenn Belinda Putnam nach dem Tod ihres Mannes eine Affäre gehabt hatte? Aber wer war sie überhaupt, das aufzudecken? Sie nahm sich doch selbst auf den Arm, wenn sie vorgab, an dem Schmuck interessiert zu sein. Im Grunde interessierte sie nur die Verbindung zu Brads Tod. Aber wer sollte Brad umbringen, damit die bisher unbekannte Tatsache über die uneheliche Geburt nicht ans Licht kommt, und warum? Es musste irgendein Motiv dafür geben. Wenn Edmund unehelich war, dann basierte seine Erbschaft auf einem Betrug.
Es hing also vom Testament ab, schloss Sweeney. Wenn Charles Putnam sein Vermögen Belinda hinterlassen hatte unter der Voraussetzung, dass es keinen Erben gab, dann hätte es keine Rolle gespielt, wer Edmund Putnams Vater war, weil Belinda das Vermögen ehrlich geerbt und ehrlich an ihren Sohn weitervererbt hätte. Aber wenn des Testament eine andere Person begünstigte und gegenstandslos geworden war, weil Charles Putnam einen rechtmäßigen Erben gehabt hat, dann war die Rechtmäßigkeit der springende Punkt.
Was hatte Belinda getan? Sie hätte zu ihrem Anwalt gehen und behaupten können, dass sie von ihrer Schwangerschaft noch nichts gewusst hatte, als ihr Mann das Testament aufgesetzt hatte.
Es gab also nur eins zu tun: Sie musste das Testament sehen.
Sweeney hatte das Massachusetts-Archiv immer geliebt. Das Magazin des Nationalarchivs lag auf dem Campus der Massachusetts-Boston-Universität
am Columbia Point. Als sie aus dem Auto stieg, schlug ihr die dicke, salzige Luft entgegen, die von der Dorchester Bay herüberwehte. Ein Jet setzte zum Landeanflug auf Logan an.
Am nächsten Montagmorgen ließ Sweeney sich an der Anmeldung registrieren und ging in die große Bibliothek, wo die Mikrofilme aufbewahrt wurden. Die
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