Der totgeglaubte Gott
Richtung der christlichen Theologie nahe, mit der sie die Empfindung der Gottesferne teilen, die als wahrer Grund für die erlebten Missstände gilt. Doch über die Prinzipien der herrschenden Ordnung und die Möglichkeit, diese zu verbessern, macht man sich dort keine Gedanken. Die irdischen Städte sind das Werk Kains und daher dem Untergang geweiht. Politisch ist diese Literatur nur insofern, als sie die Kirche in ihren letzten Tagen angekommen sieht und von einem letzten politischen Akt, einem letzten Herrscher träumt, der der aktuellen Ordnung ein Ende setzen wird und damit eine Zeit einläutet, in der keine Politik mehr nötig ist. Diese Schriften sind durchweg zur Inspiration gedacht, doch die von ihnen inspirierten Taten beschränken sich auf Selbstaufopferung, Selbstverbrennung und Mord. Sie regen jedenfalls nicht zur nüchternen Reflexion über das politische Leben an und über die Chance, dieses Leben hier und jetzt schrittweise zu verbessern. Vielmehr richten sie das Augenmerk ganz auf die Ewigkeit, auf die Welt, die da kommen wird. Die einzige politische Theologie, die daraus entstand, lässt sich im Grunde wie folgt zusammenfassen: »Dein Reich komme, Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.«
Flucht
Rückzug ins Kloster, Herrschaft über die irdische Stadt mit den zwei Schwertern von Kirche und Staat, das messianische Neue Jerusalem – welches ist denn nun das wahre Modell christlicher Politik? Über ein Jahrtausend lang fanden die Christen diesbezüglich nicht zu einer Entscheidung. Eben dies rief zahlreiche Spannungen und Konflikte hervor, die sich auch um die rechte Lehre drehten. Gläubige Christen kämpften gegen ebenso gläubige Christen um die wahre Bedeutung der christlichen Offenbarung. Die Anzahl der widerstreitenden Gruppierungen im politischen Leben des Mittelalters war erschütternd hoch. Der irdische Staat stand gegen den Gottesstaat, politisches Engagement gegen klösterlichen Rückzug, göttliche Legitimation der Könige gegen das Recht auf Widerstand, kirchliche Autorität gegen radikale Heterodoxie, kirchlicher Kanon gegen mystische Erkenntnis, Inquisitoren gegen Märtyrer, das weltliche Schwert gegen den Bischofsstab, Fürst gegen Kaiser, Kaiser gegen Papst, Papst gegen Konzil. Politik bedeutet stets auch Konflikt, doch christliche Politik zeichnete sich durch ihr theologisches Selbstverständnis aus und durch die Intensität ihrer Konflikte, die in den tiefinnersten Widersprüchen der christlichen Offenbarung wurzelten.
Die Geschichte moderner politischer Philosophie lässt sich auch vor dem Hintergrund jener theologisch-politischen Konflikte lesen, die ihren Höhepunkt in der Reformation fanden und in den daraus folgenden blutigen Religionskriegen. Im 16. Jahrhundert gab es keine einige Christenheit im Westen, kein corpus mysticum der Kirche, das hätte reformiert werden können. Es gab eine Vielzahl von Kirchen und Sekten, hinter denen meist ein absoluter weltlicher Herrscher stand, der um seine Unabhängigkeit von Papst, Kaiser oder anderen Herrschern stritt. Differenzen in der kirchlichen Lehre befeuerten immer wieder politische Ambitionen und umgekehrt. So entstand ein tödlicher Teufelskreis, der etwa einhundertfünfzig Jahre andauerte. Christen jagten und töteten Christen mit demselben religiösen Eifer, mit dem sie einst Muslime, Juden und Häretiker bekämpft hatten. Am Ende schloss man einen brüchigen Frieden, einen politischen Kompromiss, der der christlich politischen Theologie ebenfalls nicht förderlich war. Danach war es nur eine Frage der Zeit, bis neue politische Ideen entstanden, um den Frieden zu sichern und Religionskonflikte zu begrenzen. Ideen, die die geistige Tradition der politischen Theologie ersetzen würden. Dieser Prozess verlief langsam, eingeleitet von den Veränderungen des christlich-politischen Denkens im späten Mittelalter und in der Renaissance, befördert von den neuen Entwicklungen in den Naturwissenschaften.
Dies ist eine weitgehend akkurate Beschreibung dessen, was damals geschah. Allerdingst lässt sie ein Faktum außer Betracht: Im Konflikt zwischen dem traditionellen politischen Denken des Christentums und der neuen politischen Philosophie stand sehr viel mehr auf dem Spiel. Es ging um nichts weniger als um die Legitimität jener Denkrichtung, die wir politische Theologie genannt haben und die seit Beginn der zivilisierten Welt existiert. Die Krise des christlichen Politikverständnisses war in Wirklichkeit eine sehr viel
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