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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lilla
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Himmel herabsteigen sieht. Und er bekam »Herrschaft, Würde und Königtum. Alle Völker, Nationen und Sprachen müssen ihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter.« 9 Dieser Traum wird sodann in Verbindung gesetzt mit der Offenbarung des Johannes, in der es heißt: »Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde […] Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat.« 10 Die Eiferer unterziehen die Schriften einer esoterischen, »geheimen« Lektüre, die ihnen symbolische Schlüssel an die Hand gibt, welche natürlich nur für den Eingeweihten erkennbar sind. Diese Schlüssel enthüllen den göttlichen Plan für neue Plagen, die Zerstörung der Welt und die Errichtung einer neuen Ordnung unter Jesus Christus, einer Welt, in der endlich Frieden und Gerechtigkeit herrscht. Orthodoxe christliche und jüdische Theologen sahen in diesen Bestrebungen stets einen häretischen Impuls, den Wunsch, aus der alten Ordnung des Bundes oder der Kirche auszubrechen und eine neue zu begründen oder vielleicht auch gar keine. Da sie diesen Impuls fürchteten, traten sie stets für eine allegorisierende Lektüre der apokalyptischen Stellen der Bibel ein und versuchten, die sich daraus entwickelnde heterodoxe, ja mystische Literatur zu unterdrücken. Vergeblich. Der messianische Impuls blieb in den biblischen Religionen stark, wenn auch unbeständig. In Zeiten der Verzweiflung und der Krise brach er aber regelmäßig durch.
    Im christlichen Europa nahm dieser Impuls gelegentlich auch politische Gestalt an. Denn Jesus äußerte sich zwar kaum über politische Autorität oder gar Regierungsformen, doch die Themen, über die er sprach, sind eben dieselben, die das Aufgabengebiet der Politik darstellen: Hunger und Durst, Ungerechtigkeit und Grausamkeit, Verbrechen und Strafe. Und obwohl wir ihn als Verkünder des Friedens kennen, zeigt uns das Evangelium, dass er sich nötigenfalls durchaus gegen Ungerechtigkeit wandte. Er bewahrte eine Frau davor, gesteinigt zu werden, er heilte am Sabbat die Kranken und verstieß damit gegen das Gesetz des alten Bundes. Und als er die Händler und Geldverleiher im Tempel Gottes vorfand, betete er nicht und rief auch nicht die Wachen. Er flocht sich eine Geißel und trieb sie hinaus. So gesehen ist das Evangelium eine Aufforderung zum Handeln, vielleicht sogar zur Revolution: für die Auslöschung der Feinde Gottes und Gerechtigkeit hier und jetzt. Die ganze Bibel ist ein Versprechen: Eines Tages wird Gerechtigkeit herrschen. Und es ist Aufgabe jedes Christen, sein Möglichstes zu tun, damit dieser Tag baldmöglichst eintritt.
    Diese »Erwartung der Endzeit« wie ein Historiker sie nannte, brachte nie ein hoch entwickeltes politisch-theologisches Gedankengebäude hervor. Doch in bestimmten kritischen Momenten der Geschichte wie z. B. dem Dreißigjährigen Krieg in Deutschland oder dem Englischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert griffen Amateurtheologen das Thema auf und druckten Flugschriften, in denen sie den moralischen Eifer der hebräischen Propheten und des Evangeliums mit der messianischen Idee verknüpften, die in allen biblischen Religionen angelegt ist. Die Schriften, die so entstanden, sind eine verstörende Lektüre, voller Poesie, Hoffnung, Angst, Grausamkeit, Hass und Furcht – jedoch ohne Liebe. Die klassischen Probleme der christlichen Theologie werden gar nicht erst angesprochen, strebt man doch nicht nach Anerkennung durch Autorität oder Intellekt. Nein, diese Blätter wollen inspirieren, wollen den Gläubigen zur treuen Nachfolge des Gotteswortes bewegen. Wobei die Ziele dieser Schriften nicht so leicht einzuordnen sind, da sie in der christlichen Geschichte ganz unterschiedliche Funktionen erfüllten. Einige setzen auf das Bild einer kämpfenden Kirche, die sich den Kräften des Antichristen entgegenstellt, der ihr in Gestalt der Türken, Mongolen oder Juden begegnet. Andere haben einen ausgesprochen utopischen Ton und zeichnen das Bild einer neuen Ordnung unter der Sonne. Der Aufruf zum Umsturz der Unterdrücker des Volkes taucht darin ebenso auf wie die Hoffnung auf einen »Engelspapst«, einen »letzten Kaiser«, der das Volk ins Reich Gottes führt.
    Eins allerdings findet sich darin nicht: eingehende Überlegungen zu den einzelnen Elementen des politischen Lebens. Diese Schriften stehen der apokalyptischen

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