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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lilla
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Götter die Welt nicht zu unserem Besten geschaffen hätten, wenn es sie denn gäbe. Oder dass der Kosmos nichts weiter sei als eine blinde Masse von Atomen. Und vor allem, dass es keine unsterbliche Seele gebe. So schrecklich das klingen mag, die Epikureer zogen daraus Trost. Wenn der Mensch fähig sei, ohne mit der Wimper zu zucken dem Tod gegenüberzutreten, dann habe er ihn akzeptiert und könne sich ganz auf die Freuden des irdischen Lebens konzentrieren. Und er könne endlich darauf verzichten, vergeblich nach der Unsterblichkeit zu streben.
    Der moderne Epikureismus, der sich im Europa des 17. Jahrhunderts entwickelte, ließ dieses Bild von Mensch und Natur wieder aufleben, setzte es aber erstmals für politische Zwecke ein. Das Ziel war, den gesamten theologisch-politischen Komplex des Christentums zu demontieren. Das stoische Bild des Menschen als einem mit sozialen Neigungen begabten und einen geheiligten Samen in seiner Seele tragenden Wesen war mit dem Christentum noch irgendwie kompatibel. Der Epikureismus nicht: Seine strikt materialistische Anthropologie war anti-christlich bis ins Mark. Und was Hobbes’ politische Lehren anging, so enthielten sie nicht einen einzigen Kompromiss mit den Grundideen der christlich politischen Theologie. Sein großer Traktat Leviathan (1651) war der härteste denkbare Angriff auf die politische Theologie des Christentums, der je unternommen wurde, und lieferte die Argumente, mit denen spätere Denker dessen Ansprüche zurückweisen konnten. Wer vor Hobbes versuchte, der herrschenden politischen Theologie etwas entgegenzusetzen, fand sich mit all den Diskussionen über Gott, Mensch und Welt nur immer tiefer darin verwickelt. Mit einem genialen Schachzug aber zeigte Hobbes den Weg ans Licht: Er änderte einfach das Thema.
    Ziel und Zweck des Leviathan ist nichts anderes als die gesamte Tradition der christlich politischen Theologie auszuhebeln, die Hobbes das »Reich der Finsternis« nannte. Und doch beginnt der Traktat nicht mit Fragen über Theologie oder Politik, Gott oder König, sondern mit einer Lektion in Physiologie. Genauer gesagt mit einer Untersuchung des menschlichen Auges und seiner Funktionsweise. Auf der ersten Seite legt Hobbes gar sein Glaubensbekenntnis ab: Um Religion oder Politik zu verstehen, bräuchten wir von Gott nichts zu wissen. Wir müssten nur den Menschen verstehen, so wie wir ihn vorfinden, einen Körper allein in der Welt.
    Hobbes zeichnet unser geistiges Leben als Folge des Aufeinandertreffens physikalischer Kräfte. Der Mensch wird von außen mit Wahrnehmungen bombardiert, die einen gewissen »Druck« auf sein Auge ausüben. Dieser wiederum löst Sinneseindrücke aus, die dann im Gedächtnis abgelegt werden. Jeden Moment unseres wachen Daseins nehmen wir solche Sinneseindrücke auf, doch der Großteil unserer geistigen Aktivität beruht auf den Erinnerungen an diese, die wir mithilfe der Imagination, wie Hobbes dies nennt, kombinieren. Was die Dinge noch verkompliziert, ist die Tatsache, dass unsere Vorstellungen stumm sind. Bevor wir keine Ideen damit verbinden und diesen Ideen dann Namen geben, können wir die Imaginationen nicht nutzen. Wenn wir also denken, dann geschieht dies sozusagen erst in höherer Instanz, nicht in der aktuellen Erfahrung: Wir kombinieren Namen, die für Ideen stehen, die für Imaginationen stehen, die für Erinnerungen stehen, die für alte Wahrnehmungen stehen, die für das wahrgenommene Objekt in der Außenwelt stehen.
    Und doch ist der Mensch keine rein passive Kreatur, die nur Eindrücke aufnimmt und sie getreulich im Gedächtnis speichert. Er ist aktiv, er strebt, er »müht sich« – um Hobbes’ Sprache zu benutzen. Die Welt drängt auf seinen Geist ein, doch er drängt zurück. Um der äußeren Bewegung der Körper gerecht zu werden, schafft der Geist »innere Bewegungen«, Leidenschaften, die uns zu Dingen hinziehen, die wir mögen, und uns von jenen weg treiben, die wir nicht mögen. Philosophie und christliches Denken haben viele Begriffe entwickelt, um diesen Kampf zu beschreiben: die Seele, der Wille, die Vernunft, das Glück, die Tugend, die Würde, die Ehre und noch vieles mehr. Hobbes hielt das alles für Unsinn. Die »Seele« sei nur ein anderer Name für den menschlichen Geist, der aus Materie bestünde und von innen angetrieben werde durch die grundlegenden Leidenschaften von Gier und Abneigung. Wir sollten also nicht von der »Seele« sprechen, meinte er, sondern nur vom menschlichen

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