Der totgeglaubte Gott
Bewusstsein ausgestattet lebt er im Naturzustand ohne politische Autorität und weiß, dass er sich verteidigen muss. Er muss auf bestimmte Herausforderungen reagieren, doch wenn er einigermaßen klug ist, weiß er diese auch vorwegzunehmen. Doch vergessen wir nicht: Der Mensch ist unwissend. Er kann nicht sicher sein, was der Mitmensch wirklich denkt. Für ihn sind seine Nebenmänner genauso rätselhaft wie das Aufgehen der Sonne. Der Mensch mag dem Menschen zwar nicht immer ein Wolf sein, doch genauso wenig ist er von Natur aus politisch und seinem Nächsten zugewandt. Ist er aber schlau, dann wird er annehmen, dass die anderen sind wie er. Dadurch aber weiß er eines mit absoluter Sicherheit: Sie werden ihn, wenn nötig, töten. Sogar ein sehr starker Mann muss sich eingestehen, dass ein schwacher Mann ihn mit List töten könnte. Die Angst vor den anderen ist die absolute Angst. Jeder kann der Würgeengel sein, das letztendliche Böse ( summum malum ).
Daher ist der natürliche soziale Zustand des Menschen der Krieg – nicht immer der explizite bewaffnete Konflikt, aber zumindest die angespannte Bereitschaft, stets zur Waffe zu greifen. Sogar die Bibel erkenne dies, Hobbes zufolge, an: Kain tötete seinen Bruder, nicht weil er sich akut bedroht fühlte, sondern weil er Angst hatte, das zu verlieren, was er hatte, und weil er die Gründe Gottes für die Favoritenrolle Abels nicht verstand. Angst, Unwissenheit und Verlangen sind die wichtigsten Beweggründe menschlichen Handelns, sei es nun auf religiöser oder politischer Ebene. Man muss gar nicht annehmen, dass der Mensch ein gefallenes Geschöpf oder von Dämonen besessen ist. Seine grundlegenden Emotionen führen notwendig zum Krieg. Wir müssen uns nur klar machen, wie diese Beweggründe im menschlichen Geist wirken, wenn der Mensch allein und in Gesellschaft ist. Lockert man ihm die Zügel, kommt unweigerlich das heraus, was das christliche Europa in den Jahrhunderten der religiösen Konflikte erlebt hat. Hobbes beschreibt dies sehr anschaulich:
In solch einem Zustand gibt es keinen Platz für Fleiß, denn seine Früchte sind ungewiss, und folglich keine Kultivierung des Bodens, keine Schifffahrt oder Nutzung der Waren, die auf dem Seeweg importiert werden mögen, kein zweckdienliches Bauen, keine Werkzeuge zur Bewegung von Dingen, deren Transport viel Kraft erfordert, keine Kenntnis über das Antlitz der Erde, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Bildung, keine Gesellschaft, und, was das Allerschlimmste ist, es herrscht ständige Furcht und die Gefahr eines gewaltsamen Todes; und das Leben des Menschen ist einsam, armselig, widerwärtig, vertiert und kurz. 23
So würde das Leben im Naturzustand aussehen, auch wenn der Mensch kein religiöses Geschöpf wäre. Die Tatsache, dass er es ist, verkompliziert das Ganze noch. Denn nun wachsen die beiden Teufelskreise, die wir bislang kennengelernt haben – der psychische Teufelskreis religiöser Ängste und der politische der sozialen Ängste –, plötzlich zusammen und bilden einen theologisch-politischen Zyklus von Gewalt, Fanatismus, Aberglaube und lähmender Furcht.
Hobbes zeichnet von diesem Mechanismus die folgende Skizze: Im Mittelpunkt steht die Gottesvorstellung. Der Mensch glaubt an Gott, weil er Angst vor der Natur hat. Er fürchtet die Natur, weil er unwissend und gierig ist. Doch sobald der Mensch sich einen Gott geschaffen hat, fürchtet er diesen ebenfalls. Gott kann den Menschen zwar helfen, die brennendsten Wünsche ihres Herzens zu befriedigen, doch er kann sich im Zorn auch gegen sie wenden. Und obwohl Gott bekanntermaßen nicht so leicht zu erzürnen ist, ist die Bedrohung durch seinen flammenden Zorn unendlich viel schrecklicher als jede, die von einem Mitmenschen ausgeht. Mein Feind kann mir zwar mein physisches Leben rauben, doch ein erzürnter Gott wird mir das ewige Leben nehmen. In die Waagschale geworfen, wiegt der Zorn Gotts viel schwerer als der des Menschen.
Ein Mensch, der mit einen gegnerischen Angriff rechnet, kann sich immerhin wappnen. Wie aber soll er sich vor dem Zorn Gottes schützen? Er kann ihn nur anbeten und versuchen, ihm gehorsam zu sein, doch da er unwissend ist, kann er nie völlig sicher sein, was Gott von ihm fordert. Die Priester allerdings behaupten, Gottes Willen zu kennen. Natürlich können sie nicht über ein derartiges Wissen verfügen. Das kann niemand, wenn Hobbes’ Sicht auf den begrenzten menschlichen Geist korrekt ist. Doch die Behauptung,
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