Der totgeglaubte Gott
Gottes Willen zu kennen, verleiht Macht, und der Mensch, der ständig im Kampf mit dem Schicksal liegt, braucht alle Macht, die er bekommen kann. Dabei ist es unwesentlich, ob die Priester ihre eigenen Behauptungen glauben. Möglicherweise täuschen sie sich selbst ebenso wie ihre Klientel. Interessant ist hier nur, dass das menschliche Bedürfnis, ein höheres Wesen anzubeten, die Autorität der Religionsvertreter in der Gesellschaft überhaupt erst hervorbringt – und damit Macht schafft.
Eine Macht, die heiß umkämpft ist. Ein Prophet oder Priester behauptet, Gott wolle X, der andere fordert in Gottes Namen Y. Um die eigene Anhängerschaft zu vergrößern, verkünden beide, nur sie wüssten um den wahren Weg zur Erlösung. Beide zeichnen den theologischen Gegner als Bedrohung des Friedens und des Seelenheils der eigenen Anhänger. Ein Bieterkrieg um Anhänger entspinnt sich, die Gläubigen erfasst ein bizarrer, abergläubischer Fanatismus, eine Intoleranz, die langsam ihren Geist vergiftet. Da sie ihr Seelenheil gefährdet sehen, entbrennt ein Konflikt zwischen den theologisch-politischen Positionen. Die Kettenreaktion von Angst und Gewalt, die der Sphäre der menschlichen Politik eigen ist, schaukelt sich weiter auf und schafft neue Ängste, neue Gründe, sich bedroht zu fühlen. Der daraus entstehende Krieg lässt sich nicht beenden, solange die Gegner glauben, sie könnten sich mit einem Sieg das ewige Leben sichern, eine Niederlage aber würde sie in ewige Verdammnis fallen lassen. Der Grund, dass Menschen im Krieg Taten begehen, die kein Tier je beginge, ist paradoxerweise eben der menschliche Glaube an Gott. Tiere kämpfen nur gegeneinander, wenn es um Ernährung oder Fortpflanzung geht. Der Mensch aber kämpft, um in den Himmel zu kommen.
Hobbes spricht hier von allen Religionen, doch ist in seinen Ausführungen unschwer das Porträt des christlichen Europas zu erkennen. Die christliche Offenbarung trägt in sich das Potenzial für Gewalt und Unsicherheit, das jeder Religion eigen ist, doch ihre tiefverwurzelte theologische Ambivalenz gegenüber dem öffentlichen Leben macht sie nach Hobbes’ Meinung besonders anfällig für destabilisierende Tendenzen im Hinblick auf die öffentliche Ordnung. Wie alle Religionen übt das Christentum Autorität über seine Gläubigen aus, weil es eben das ist, was diese wollen und brauchen: Sie brauchen eine glaubhafte Erzählung, wie es ihnen gelingen könnte, Gott zu besänftigen, um ihre eigenen Ängste zu besiegen. Doch obwohl das Christentum unentrinnbar politisch ist, war es unfähig, diese Tatsache in die christliche Theologie zu integrieren. Die politische Organisation des mittelalterlichen Europas stand ganz im Zeichen dieser Ambivalenz, was die Konflikte, die unweigerlich aus dem politischen Leben entspringen, noch verschärfte. Weltliche Herrscher konkurrierten also nicht nur miteinander um die Macht, sie mussten sich auch noch mit Päpsten und Bischöfen auseinandersetzen, die es nicht einmal schafften, sich untereinander über geringfügige doktrinale Differenzen zu einigen. Und die Kirchenmänner waren bei diesen Schlachten keineswegs zimperlich: Sie drohten ihren Gläubigen von der Kanzel herab mit dem Verlust des Seelenheils. Hätte das Christentum sich selbst als die politische Religion gesehen, die es war, und den Papst mit voller Autorität auch in weltlichen Belangen ausgestattet, hätte sich – so Hobbes – vermutlich viel Blutvergießen vermeiden lassen. Doch als Christ zu leben heißt nun einmal, in dieser Welt – auch der politischen – zu leben, aber nicht von dieser Welt zu sein. Mit einem falschen Bewusstsein zu leben – das Konzept stammt zwar von Karl Marx, ist aber in den Ausführungen von Thomas Hobbes deutlich angelegt.
Nachdem Hobbes seine vollkommen neue und klug herausgearbeitete Analyse der Probleme des Christentums präsentiert hat, widmet er den Rest des Leviathan der Abhandlung therapeutischer Maßnahmen, die Europa ein für alle Mal aus dem Labyrinth der politischen Theologie herausführen sollte. Seine Vorschläge waren radikal, ja geradezu verstörend, denn es lag nicht in Hobbes’ Absicht, die Furcht zu beseitigen. Er dachte ohnehin, sie sei dem Menschen angeboren und auch notwendig, um ihn zum Gehorsam zu bewegen. Hobbes wollte vielmehr, dass die menschliche Furcht sich ganz auf eine Gestalt konzentrierte, nämlich auf den Herrscher. Wenn ein absoluter Herrscher seine Untertanen dazu bringen konnte, dass sie keine
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