Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
Sie musste sich immer wieder daran erinnern, sich an dieser Stelle nicht zu kratzen.
Der Ratsvorsitzende saß genau in der Mitte des Tisches und schien älter als der Rest. Er trug eine Weste aus trübem, senfgelbem Samt und eine Perücke mit Ringellöckchen. Sein Jabot war sehr eng geschnürt und schnitt am Hals in die Haut ein. Immer wieder ließ er den Blick von Rue zu dem Papierstapel wandern, der vor ihm lag, nestelte an den Seiten herum und schaute grimmig durch sein Monokel.
Sie erinnerte sich an ihn. Parrish Grady. Als sie neun Jahre alt war, hatte er sie einmal ausgeschimpft, bis sie in Tränen ausgebrochen war, weil sie ein wildes Gänseblümchen am Tor zum Garten vor seinem Haus gepflückt hatte.
Der Marquis, wie Rue auffiel, hatte sich nicht niedergelassen. Er stand allein am Fenster in einer Ecke, hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und betrachtete den eisigen Regenvorhang. Als sie den Raum betrat, hatte er sich nicht umgedreht.
Er war in Weiß gekleidet, genau wie sie, in konventionellen, seidenen Kniebundhosen, Strümpfen und einem Mantel mit breitem Saum, der aus feinstem silbernen und indigoblauen Zwirn gewoben war. Selbst sein Haar war gebändigt und zu einem Zopf zurückgebunden. Vor dem Hintergrund der himmelblauen Vorhänge und den Wolken in der Farbe dunkler Perlen verschmolz er mit dem Herrenhaus selbst, auf elegante Weise unbeteiligt, ungerührt, ein kühler Hauch von Schatten und Sturm.
»Nur für unser Protokoll«, begann Mr. Grady mit einem ernsten Blick den Tisch hinunter zum Schreiber. »Sie sind eine gewisse Clarissa Rue Hawthorne, Tochter der inzwischen verstorbenen Antonia Reine MacKenzie Hawthorne.«
Rue hüllte sich in Schweigen.
»Sie werden wohl die Freundlichkeit haben, uns zu antworten«, herrschte Grady sie an und blickte zu ihr auf.
»Das bin ich.«
»Sie sind die einzige Nachfahrin von Antonia Reine.«
»Ja.«
»Sechsundzwanzig Jahre alt.«
»Bitte vergessen Sie meinen Vater nicht«, unterbrach Rue ihn freundlich.
Die Ratsmitglieder starrten sie an, ein Stuhl knirschte.
»Avery Rhys Hawthorne aus Pembroke«, fuhr sie fort. »Ebenfalls verstorben.« Rue warf dem Schreiber einen Blick zu und lächelte. »Soll ich den Namen für Sie buchstabieren?«
»Ähem, nein.« Der Mann sah sie blinzelnd an, als würde er sie erst just in diesem Augenblick bemerken. Er war jünger als die anderen, gut aussehend und trug eine Brille. Auf seinem Ärmel befand sich ein Tintenfleck. »Das dürfte nicht nötig sein. Mylady.«
Christoff drehte sich um; sein Körper war nur eine Silhouette vor dem Regen und dem blauen Brokatstoff.
»Clarissa Rue«, sagte Grady mit wohlberechneter Verachtung in der Stimme. »Auch als ›der Rauchdieb‹ bekannt.«
»Ja.«
»Sie können die Wandlung vollziehen.«
»Ja.«
»Seit welchem Lebensjahr?«
»Seit dem Morgen meines siebzehnten Geburtstages«, antwortete sie.
»Siebzehn.« Grady achtete sorgfältig darauf, dass der Schreiber diese Information festhielt, dann fuhr er fort. »Und von diesem Zeitpunkt an haben Sie diese geheiligte Fähigkeit genutzt, um zu stehlen … Einen Augenblick …« Stirnrunzelnd starrte er auf seine Papiere und durchsuchte sie mit Händen, die von blauen Adern überzogen waren.
»Sie gestatten.« Rue zählte an den Fingern ab. »Die Monfield-Steine. Den Voroschilov-Smaragd. Die Steiff-Halskette - exquisite Jade. Das blaue Perlencollier und die Ohrstecker der Prinzessin Caroline von York. Lady Wetherbys neunzehnkarätige, gelbe Topasbrosche in Form eines Singvogels. Lord Cranstons zwölfkarätige Krawattennadel. Die Westennadel aus Sternsaphiren des Earl von Harrogate. Wie weit soll ich für Sie zurückgehen? Die grüne Brosche mit Granat- und Diamantbesatz von der Baronin Shaw. Es handelte sich dabei um eine Libelle mit Bernsteinaugen, eine wirklich ausgefeilte Arbeit. Das Greumach-Diadem. Das Aberdeen-Diadem. Oh - und einmal ein entzückendes kleines Porträt von Bordone. Der Prinz von Wales hatte es wahrlich an keiner vorteilhaften Stelle aufgehängt. Ich bezweifle, dass er es überhaupt je vermisst hat.«
Ein plötzlicher, blendender Blitz zuckte durch das Zimmer. Der Donner ließ Holz und Glas gleichermaßen erbeben.
Gradys Stimme war über das abklingende Grollen zu hören. »Und als Rauchdieb haben Sie auch das Herz des Stammes gestohlen. Sie entwendeten Herte .«
»Nein«, antwortete Rue mit einem deutlichen Anflug von Bedauern. »Das habe ich nicht.«
Parrish Grady ließ sein Monokel
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