Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
strampelte und trat mit den Füßen, was ein wildes Durcheinander von Mantelschößen und Rockfalten zur Folge hatte.
Keiner der Männer schritt ein. Rue ließ Mel auf den nassen Boden fallen, ging an ihr vorbei und bog vor den Wiesen ab, ohne sich noch einmal umzusehen.
Kit löste die Hand vom Fenstergriff. Es war eine rituelle Herausforderung gewesen, der ein unbestreitbarer Sieg gefolgt war. Innerhalb von Stunden würde jeder in der Grafschaft wissen, dass Rue Hawthorne unbestreitbar die neue Alpha war. Er kam zu dem Schluss, dass er die Dinge auch nicht besser hätte arrangieren können.
Das Dachgesims war voller Spinnweben. Das hätte ihr nicht so viel ausmachen sollen, wie es der Fall war, aber Rue sah
immer wieder hinauf und entdeckte noch weitere, zerrissene Gespenster, die in den Ecken des Hauses hingen, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Sie baumelten von Türöffnungen, flatterten vor den Vorhängen und spannten sich wie gespreizte Finger zwischen dem alten Geranientopf auf dem Fensterbrett in der Küche und einem kleinen Porzellanlamm, das seinen Schwanz in die Höhe reckte.
Die Zinnscheibe hing noch genau dort, wo sie sie zuletzt gesehen hatte, mit ihrem Band an der Wand befestigt, mit Staub überzogen und fleckig vom Alter.
Rue störte der Staub nicht. Quentin, einem der Wachmänner, zufolge, war das Haus unbewohnt, seitdem Antonia gestorben war. Aber die leeren Spinnweben …
Selbst die Spinnen waren fort. Hier gab es nur noch Gespenster.
Sie wandte sich vom Zinnspiegel ab, denn sie wollte nicht ihr eigenes Bild darin sehen.
Jemand hatte die mit Stickarbeiten bezogenen Sessel weggeräumt, doch der Walnussboden, die Baumwoll-Volants, selbst die gesteppten Überdecken auf den Betten - alles war unverändert und genauso, wie an dem Tag, als sie ihr Zuhause verlassen hatte.
Wie gut ihr Herz diesen Ort kannte. Es hatte früher nicht nur Leid und Verfolgung gegeben und ganz sicher nie in dem Haus ihrer Mutter. Innerhalb dieser schlichten, starken Mauern hatte sie Liebe kennen gelernt, den Geruch von Vanillepudding vom Herd, das Damespiel, Vasen mit Wildblumen, den Gesang von Lerchen, Gelächter und Umarmungen …
Nach ihrem offiziellen Tod war Clarissa Rue noch zweimal zu Antonia zurückgeschlichen. Als der Schmerz und die Verwirrung jenes Geburtstagsmorgens erst einmal nachgelassen hatten, als sie wieder Fuß gefasst und ein beengtes Einzelzimmer
in einem Gasthaus in Wapping gefunden hatte, war sie nach Darkfrith zurückgekehrt, um ihre Mutter zu bitten, mit ihr nach London zu kommen. Aber Antonia hatte, wie immer, klug gehandelt. Nach der Freude über ihr Wiedersehen hatte sie endgültig entschieden, Clarissa nicht zu folgen, denn sie wusste, dass sie nicht beide sicher aus dem Stamm verschwinden konnten. Rue hatte die ganze Nacht nicht aufgehört, mit ihr deswegen zu streiten. Gemeinsam lagen sie auf dem Bett, die Köpfe nebeneinander auf den Kissen, bis ihre Stimmen heiser wurden und sich am Himmel die ersten Streifen der Morgendämmerung abzeichneten. Antonia ließ sich nicht umstimmen. Beide weinten beim Abschied.
Ein halbes Jahr später wollte Rue noch einmal einen Versuch unternehmen. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte die Schwindsucht Antonia schon besiegt. Alles, was sie von ihrer Mutter noch vorfand, war ein schlichter Stein auf dem Friedhof der Grafschaft, weiter unten auf dem Hügel als die meisten, der letzte Stein in einer Reihe, die mit Antonia, Rues Großvater und ihrer Großmutter endete. Sie hatte Enzian auf die drei Gräber gelegt.
Durch eine gesprungene Fensterscheibe in ihrem alten Schlafzimmer tröpfelte sacht Wasser, rann am Glas hinab und sammelte sich in einer Lache auf dem Fensterbrett. Rue berührte den Spalt mit den Fingern, sah hinaus auf das saftige, niedergedrückte Gras und die Reihen der sturmgepeitschten Bäume.
Quentin und die anderen drei Wachen waren im Salon geblieben. Sie hatte darum gebeten, alleine in diesem Zimmer sein zu dürfen. Schließlich konnte sie nirgendwo hin verschwinden. Selbst im Obstgarten zählte sie sechs neue Männer, die sie nicht aus den Augen ließen, während sie mit hochgezogenen Schultern dem Wetter trotzten.
Es war ein Wunder, dass sie sie überhaupt hinausgelassen hatten. Sie hoffte, dass das ein positives Zeichen war.
Das zweite Dielenbrett hinter der Tür der Eingangshalle war lose und quietschte. Das hörte sie, und nur das. Kit war so still wie eine leichte Brise. Ohne ihn anzusehen, drehte sie den Kopf und sprach
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