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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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nach vorne sinken lassen. Glauben Sie, ich hätte es nicht bemerkt? Ich kenne das Geräusch der Barthaare auf Ihrem Kragen!«
    Unwillkürlich richtete sich Freud in seinem Sessel auf und reckte das Kinn nach vorne. Doch schon im nächsten Augenblick ärgerte er sich wiederum über seine eigene kleine Unsicherheit, über dieses lächerliche Gefühl, ertappt worden zu sein, wie ein Volksschüler beim Grimassenreißen hinter dem Rücken seiner Lehrerin.
    »Meine liebe Mrs. Buccleton, lassen Sie sich Folgendes sagen«, knurrte er mit der ganzen ihm gerade zur Verfügung stehenden Freundlichkeit, »mein ›Oh‹ hatte weder einen entwertenden noch einen verächtlichen noch irgendeinen anderen Unterton. Mein ›Oh‹ war vielmehr nur der zum Laut geformte Ausdruck meiner Aufmerksamkeit. Und wenn mein Kopf hin und wieder der Schwerkraft nachgibt, so möchte ich Sie bitten, ihm gnädigst zu verzeihen: Er ist mittlerweile über achtzig Jahre alt, hat viel gearbeitet in seinem Leben und ruht auf einer Reihe ziemlich morscher Halswirbel.«
    »Es tut mir leid, Herr Professor«, schniefte Mrs. Buccleton kleinlaut.
    »Um auf unser Thema zurückzukommen, Verehrteste«, fuhr Freud streng fort, »die Scham und die Lust sind wie Geschwister, die Hand in Hand durchs Leben gehen – wenn man sie nur lässt. Aus Gründen, die sich noch im Dunkel Ihrer Vergangenheit verbergen, die ich aber in absehbarer Zeit mit Ihrem gütigen Beistand ins Licht der Erkenntnis zu heben gedenke, gedeiht bei Ihnen nur eines der Geschwisterchen, während das andere verkümmert und allerhöchstens in irgendwelchen Konditoreien zu seinem Recht gelangt.«
    »Meinen Sie?«
    »Ja, das meine ich.«
    »Aber was kann ich tun, um dem armen Ding zu seinem Recht zu verhelfen?«, fragte Mrs. Buccleton hoffnungsvoll.
    Freud beugte sich nach vorne, verschränkte die Arme vor der Brust und sah seiner Patientin mit seinem durchdringendsten Blick in die Augen: »Hören Sie auf, Torten zu essen!«
    Mit einem aus den tiefsten Tiefen ihrer Seele aufsteigenden Schmerzenslaut, warf Mrs. Buccleton ihren schweren Körper herum, sodass die Couchbeine knacksten, das Parkett erbebte und das Heer der Antiquitäten in den Regalen zu zittern und zu hüpfen begann, als wäre es nach all den starren Jahrhunderten endlich zum Leben erwacht.
    Nachdem Mrs. Buccleton gegangen war, stand der Professor noch eine Weile am Fenster und sah in den Hof hinunter. Es war warm geworden in den letzten Tagen, der Schnee war längst geschmolzen, und bald würden die Kastanien austreiben. Gestern hatte sich Schuschnigg mit einer großen Rede an sein Volk gewandt. In seiner Heimatstadt Innsbruck präsentierte er sich im zünftigen Tiroler Anzug und fragte seine Zuhörer, ob sie sich in der für den 13. März angekündigten Volksabstimmung für ein »freies, deutsches, unabhängiges, soziales, christliches und vereintes Österreich« entscheiden wollten. Und während über zwanzigtausend Anhänger ihre Zustimmung in die klare Tiroler Bergluft hinausbrüllten, saß Adolf Hitler wahrscheinlich gerade irgendwo in Berlin vor dem Radio und leckte sich die Lippen. Österreich lag vor ihm wie ein dampfendes Schnitzel auf dem Teller. Jetzt war die Zeit, es zu zerlegen. In Wien war es nach Schuschniggs Rede zu heftigen Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern gekommen. Die Patrioten schwärmten in die ganze Stadt aus und brüllten: »Heil Schuschnigg!« und »Wir stimmen mit Ja!« Doch mit der Macht einer stummen Masse im Rücken krochen jetzt auch die Nationalsozialisten wieder aus ihren Löchern und liefen lärmend durch die Straßen: »Heil Hitler!«, schrien sie, »Ein Volk! Ein Reich! Ein Führer!« Bis in die frühen Morgenstunden hallte das Gebrüll vereinzelter Zusammenrottungen in den Straßen wie wütendes Hundegebell.
    Unten im Hof tauchte Frau Szubovic auf, die tratschsüchtige Hausmeistergattin, winkte zum Professor hinauf und fing an, Taubengift in die Ecken zu streuen. Freud tat, als ob er sie nicht gesehen hätte, und trat schnell einen Schritt ins Zimmer zurück. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich unbeantwortete Briefe. Die ganze Welt schien etwas von ihm zu wollen. Die Leute hätschelten ihre kleinmütigen Sorgen und hatten noch gar nicht begriffen, dass unter ihnen die Erde glühte. Er nahm einen der unscheinbareren Briefe in die Hand und öffnete ihn: »Hochverehrter Herr Professor Dr. Sigmund Freud! Im nächsten Jahr erscheint in unserem allseits bekannten und beliebten

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