Der Trafikant / ebook (German Edition)
trotzdem. Aus irgendeinem Grunde vermutete er unter ihrer nervtötenden Attitüde und der dicken Speckschicht einen virilen Geist und ein offenes Herz. Außerdem zahlte sie pünktlich und in Dollar.
»Erzählen Sie weiter«, sagte er. Wie immer saß er am Kopfende der Couch und beobachtete das leichte Wippen seiner eigenen Schuhspitze.
»Und ich werde von Tag zu Tag fetter!«, fuhr Mrs. Buccleton fort. »Auch diesen Monat habe ich wieder ein paar Kilo zugenommen. Meine Kleider passen mir nicht mehr. Besser gesagt: Ich passe nicht mehr in meine Kleider. Aber mittlerweile schäme ich mich ja, zum Schneider zu gehen. Ich schäme mich, überhaupt irgendwohin zu gehen. Ich schäme mich vor meinem eigenen Spiegelbild. Und vor allem schäme ich mich, jetzt hier vor Ihnen zu liegen, Herr Professor!«
Freud lehnte sich noch ein Stückchen weiter zurück. Der einzig wahre Grund, warum er sich während all der ungezählten Therapiesitzungen in den vergangenen Jahrzehnten hinter das Kopfende der Couch zurückgezogen hatte, war der, dass er es nicht ertragen konnte, eine Stunde lang von seinen Patienten angestarrt zu werden, beziehungsweise selbst in ihre hilfesuchenden, verärgerten, verzweifelten oder von irgendwelchen sonstigen Gefühlen verzerrten Gesichter blicken zu müssen. Gerade in letzter Zeit fühlte er sich oft überfordert von den erschöpfenden Stunden mit seinen Patienten und betrachtete ratlos deren Leid, das bei jedem Einzelnen die ganze Welt zu umfassen schien. Wie hatte er jemals auf die geradezu absurde Idee kommen können, diese Leiden verstehen zu wollen oder sie gar lindern zu können? Was für ein Teufel hatte ihn geritten, den Großteil seines Lebens der Krankheit, der Bedrückung und dem Elend zu widmen? Er hätte Physiologe bleiben und mit seinem Skalpell in aller Ruhe Insektenhirne in hauchdünne Scheiben schneiden können. Oder Romane schreiben, aufregende Abenteuergeschichten, die in fernen Ländern und alten Zeiten spielten. Stattdessen saß er jetzt hier und betrachtete aus dem Schatten seiner Sitzecke heraus Mrs. Buccletons runden Kopf. Ihr blondiertes Haar war an den Wurzeln grau, und ihre Nasenflügel bebten, während sie leise schniefte. Von hier aus gesehen, wirkte Mrs. Buccletons Nase wie ein dickliches Tierchen, das, ausgesetzt in einer unbekannten und bedrohlichen Wildnis, ängstlich vor sich hin bibberte. Irgendetwas daran rührte Freud. Gleichzeitig ärgerte ihn seine eigene Rührung. Es waren immer diese scheinbaren Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten, die ihn die mühsam aufgebaute Distanz zu seinen Patienten vergessen ließen: das zerknüllte Taschentuch in der Hand eines Generaldirektors, die verrutschte Perücke einer alten Lehrerin, ein offener Schuhriemen, ein leises Schlucken, ein paar verlorene Worte oder eben jetzt Mrs. Buccletons zitternde Nase.
»Sie schämen sich also«, sagte er. »Wofür schämen Sie sich?«
»Für alles. Für meine Beine. Für meinen Nacken. Für die Schweißflecken unter meinen Achseln. Für mein Gesicht. Für mein ganzes Auftreten. Sogar zuhause, alleine unter meiner Bettdecke, schäme ich mich. Ich schäme mich für alles, was ich tue, habe und bin.«
»Hm«, meinte Freud, »und wie verhält es sich mit Ihrer Lust?«
»Wie bitte?«
»Was ist mit Ihrer Lust? Empfinden Sie nicht auch manchmal so etwas wie Lust?«
Mrs. Buccleton dachte nach. Draußen im Hof öffnete jemand ein Fenster, kurz war das Gekeife zweier Frauenstimmen zu hören, dann war es wieder still. Freud ließ den Blick über seine Antiquitätensammlung gleiten. Man müsste wieder einmal abstauben, dachte er, und zwar gründlich. Der Terrakotta-Reiter hatte schon eine dünne Staubschicht auf dem Schädel, und vom linken Ohr des chinesischen Wächters glaubte er sogar einen zart schimmernden Spinnwebfaden hängen zu sehen. Vielleicht, so dachte Freud weiter, würde auch seine Büste irgendwann in irgendeinem Zimmer stehen und still darauf warten, dass ihr jemand mit einem feuchten Tuch den Staub von der Glatze wischte.
»Ich empfinde Lust beim Essen«, sagte Mrs. Buccleton, »zum Beispiel beim Essen von großen Tortenstücken.«
»Oh«, sagte Freud und ließ langsam sein Kinn auf die Brust sinken.
»Da haben wir es!«, rief Mrs. Buccleton aus und warf triumphierend beide Arme in die Höhe.
»Was haben wir?«
»Sie verachten mich!«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ihr ›Oh‹ hatte einen verächtlichen Unterton! Entwertend und verächtlich! Außerdem haben Sie Ihren Kopf
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