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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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überquerte er mit etwas wackeligem, aber dennoch einigermaßen forschem Schritt die Straße und hielt direkt auf die Bank zu.
    »Bist du eigentlich schon einmal auf die Idee gekommen, zu läuten?«, fragte er. »Das würde einiges erleichtern.«
    »Auf die Idee bin ich schon gekommen«, antwortete Franz, der längst aufgesprungen und Freud entgegengeeilt war, »nur hab ich mich nicht getraut, Sie zu stören!«
    »Manchmal muss man Menschen eben stören, wenn man sie erreichen will!«, sagte Freud und überreichte Franz ein sorgfältig in Seidenpapier eingewickeltes Päckchen. »Hier hast du deinen Schal zurück: Er ist gewaschen und gebügelt und duftet wie eine Rosenhecke. Die Damen haben ihr Bestes gegeben!«
    »Meinen herzlichen Dank und ganz hochachtungsvolle Grüße in den ersten Stock hinauf, Herr Professor! Aber wollen Sie sich nicht setzen?«, sagte Franz mit einer einladenden Handbewegung. »Nein danke«, sagte Freud und warf einen verstohlenen Blick zum Wohnzimmerfenster im ersten Stock, in dem sich der klare Frühlingshimmel spiegelte, »wir machen heute einen Spaziergang!«
    Sie stiegen die Berggasse hinauf, hielten sich an der Währingerstraße links, gingen im Bogen um die Votivkirche herum und weiter in Richtung Rathaus. Die Luft war mild, seit Wochen hatte es nicht mehr geschneit, und im Votivpark blühte viel zu früh der Flieder. Ein leichter Föhnwind war aufgekommen und trieb Unmengen von Flugzetteln, die zur sonntäglichen Wahl aufriefen, durch die Straßen. Ja zu Österreich stand darauf und Rot-Weiß-Rot – bis in den Tod! Franz hatte sich das Päckchen mit dem Schal unters Hemd gesteckt, wo es ihm leise knisternd den Bauch wärmte. Da hatten also die Damen ihr Bestes gegeben, dachte er und versuchte, seinen Stolz nicht wie eine Laterne vor sich her zu tragen. Immer wieder blickte er aus den Augenwinkeln zum Professor, der mit kleinen Schritten neben ihm ging. Sein Stock klackerte in gleichmäßigem Rhythmus aufs Pflaster, als müsste er sich den Weg erst ertasten. Dabei atmete er flach und unregelmäßig und entließ jedes Mal beim Ausatmen ein leise zischendes Geräusch. Am liebsten hätte Franz ein bisschen gekichert. Oder gleich laut aufgelacht. Eigentlich war er sich in der Nähe sogenannter »gescheiter Leute« immer ein bisschen linkisch und fehl am Platz vorgekommen. Mit dem Professor aber war das anders. Dieser alte Herr war nicht einfach nur gescheit. Am See galt man ja schon als belesen, wenn man die Überschriften des Gemeindeblättchens oder den Fahrplan im Timelkamer Bahnhof einigermaßen entziffern konnte. Und auch die vielen Doktoren und Studienräte aus Wien, München oder Salzburg, die sich im Sommer scharenweise ans Ufer legten, um sich ihre weißen Fischbäuche rosig aufbrennen zu lassen, erwiesen sich spätestens nach ein paar Litern Bier beim Goldenen Leopold als im Grunde genommen doch recht einfache, um nicht zu sagen geradezu geistlos vor sich hin fabulierende Gemüter. Der Professor hingegen war dermaßen klug, dass er sich die Bücher, die er lesen wollte, gleich auch selber schreiben konnte. Genau so ist das, dachte Franz und lächelte in sich hinein, während sie im Schatten des langgestreckten Universitätsgebäudes dahingingen. Aber da war noch etwas anderes. Ein einzelner Gedanke, der jäh auftauchte wie ein kleines Erschrecken und sich tief in seinem Inneren schnell zu einem anhaltenden Gefühl ausbreitete. Einem Gefühl, das da drinnen jetzt seinen Platz beanspruchte und sich – so viel war klar – nicht mehr so leicht verscheuchen lassen würde: Er hatte Mitleid mit dem Professor. Vieles an ihm rührte ihn irgendwie. Der schiefe Kiefer zum Beispiel. Oder der immerzu leicht gebeugte Rücken. Die schmalen, eckigen Schultern. Die alten Finger, die sich fleckig und dürr am Knauf seines Gehstocks festhielten. Dieses Altwerden ist doch eigentlich ein einziges Elend, dachte Franz wehmütig und gleichzeitig ein bisschen wütend. Was nützte die ganze Gescheitheit, wenn einen die Zeit ja doch irgendwann erwischte?
    Vor dem Rathaus hatten sich Kinder und Jugendliche zu kleinen Grüppchen versammelt. Sie lungerten an den Ecken, blockierten Arm in Arm die Gehsteige oder liefen lachend und schreiend über den Platz und schwenkten ihre Mützen und Hakenkreuzfähnchen. Vereinzelt standen Polizisten herum und schauten dem Treiben mit auf dem Rücken verschränkten Armen zu. Ein Volksschulbub in kurzen Hosen krähte »Sieg Heil!« und ließ sich mit ausgestreckten

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