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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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VerlagErdenwerk eine Anthologie mit dem vorläufigen Arbeitstitel Heimische Obstgärten als Orte der inneren Einkehr . Zu diesem Anlass erlauben wir uns, Sie, verehrter Herr Professor, zu bitten, ein kurzes Essay zum Thema oder zumindest ein paar Grußworte …« Mit einer müden Bewegung zerknüllte er den Brief und warf ihn in Richtung Papierkorb. Das Knäuel prallte vom Korbrand ab, kullerte über den Parkettboden zurück und landete direkt vor seinen Füßen. Kurz verspürte er den Drang, es mit einem wilden Tritt durchs Zimmer zu pfeffern, doch im selben Moment pochte es an der Tür. Es war unverkennbar seine Tochter Anna. Martha klopfte, Anna pochte.
    »Was gibts?«, murrte der Professor.
    »Er ist wieder da.«
    »Wer?«
    »Der Trafikantenbub.«
    Freuds Gesicht hellte sich auf. Eigentlich hatte er sich in Gegenwart sogenannter »einfacher Leute« immer ein wenig unbeholfen und deplatziert gefühlt. Mit diesem Franz aber verhielt es sich anders. Der Bursche blühte. Und zwar nicht wie die über die Jahrzehnte ausgebleichten und durchgesessenen Strickblüten auf einer der vielen Decken, die seine Frau immer so sorgfältig über die Couch drapierte und in deren dicken Wollfasern sich auf magische Weise der Staub der ganzen Stadt zu sammeln schien. Nein, in diesem jungen Menschen pulsierte das frische, kraftvolle und obendrein noch ziemlich unbedarfte Leben. Außerdem stellte der kolossale Altersunterschied zwischen ihnen automatisch die Distanz her, die er für angenehm erachtete, ja, die ihm den näheren Kontakt mit den allermeisten Mitmenschen im Grunde genommen erst erträglich machte. Franz war blutjung, des Professors Welt hingegen drohte immer mehr zu vergreisen. Selbst seine Tochter, der er, wie ihm plötzlich vorkam, erst vorgestern noch auf dem Badewannenrand sitzend die Milchzähne geputzt hatte, war nun schon über vierzig Jahre alt. Ganz zu schweigen von den Patienten sowie vom Rest der Verwandtschaft und den wenigen Freunden, die noch geblieben waren. Langsam, mit seniorenhaften Schrittchen trippelte man der fortschreitenden Versteinerung entgegen, bis man sich schließlich, ohne großartig aufzufallen, in die eigene Antiquitätensammlung würde einordnen können.
    »Papa?« Ohne ein weiteres Mal zu pochen, hatte Anna das Zimmer betreten. Wieder einmal trug sie eine Hose. Der Professor hasste Hosen an Frauenbeinen. Auch und vor allem an den Beinen seiner Tochter. Doch in gewissen Angelegenheiten war es nicht ratsam, sich mit ihr anzulegen, also sollte sie seinetwegen eben ihre Hosen tragen. Solange sie damit zuhause blieb.
    »Sitzt er wieder auf der Bank?«
    Anna nickte. »Seit eineinhalb Stunden.«
    »Hat er was mitgebracht?«
    »Das weiß ich nicht. Aber du solltest sowieso nicht mehr außer Haus gehen!«
    »Wieso denn nicht?«
    »Das weißt du ganz genau!«
    Freud zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste er es. Er war alt. Er war krank. Er war Jude. Und in den Straßen trieb sich viel zu viel Gesindel herum. Doch vor Geschehnissen zu kapitulieren, die noch nicht einmal richtig begonnen hatten, kam nicht in Frage. Und vor seiner eigenen Tochter schon gar nicht.
    »Nein, ich weiß es nicht!«, sagte er stur. »Und jetzt hol mir meinen Mantel und meinen Hut!« Anna lächelte. Sie trat einen Schritt auf ihren Vater zu und fasste ihm ans Kinn. Er öffnete den Mund, und sie schob vorsichtig ihren Daumen zwischen seine Kiefer. Mit der Kuppe drückte sie fest gegen den hinteren Teil der Prothese. Es gab ein knackendes Geräusch, und er verzog schmerzvoll sein Gesicht.
    »Sitzt!«, sagte Anna nach einem kurzen Blick in seine Mundhöhle. Sie zog ihren Daumen zurück, wischte ihn mit einem Taschentuch ab, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihren Vater schnell auf beide Wangen.
    »Ist ja schon gut«, murmelte er, trat einen Schritt zurück und rieb sich den Bart. Im Laufe der Jahrzehnte hatte er gelernt, mit Schmerzen umzugehen, vielleicht würde ihm das mit Zärtlichkeitszuwendungen irgendwann auch noch einmal gelingen.
    »Pass auf dich auf!«, sagte Anna. Dann bückte sie sich, hob den zerknüllten Obstgärtnerbrief auf und beförderte ihn mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb.

Gerade als Franz im Begriff war, sich auf eine längere Wartezeit einzurichten und gegen alle Regeln der althergebrachten Wiener Anständigkeit die Beine hochzulegen, um sich der Länge nach auf der Bank auszustrecken, ging drüben das Tor auf, und der Professor trat ins Freie. Wie schon beim ersten Mal

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