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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Bauernbub, ein lächerlicher Trafikantenlehrling, bei dem sich schon die Nähte zu lösen begannen.
    »Entschuldigung«, sagte er leise.
    »Ist schon gut, Burschi.« Anezka hielt ihre Zigarette gegen das Licht und blickte dem Rauch nach, der wie ein zittriger Faden senkrecht aufstieg und sich irgendwo auf Höhe der Dachrinnen verkräuselte.
    »Ich heiße nicht Burschi«, sagte Franz mit tonarmer Stimme. Anezka schnippte ihre Zigarette weg und trat ganz nah an ihn heran. Ihr Atem roch nach Pfefferminz und Zigarettenrauch. Am Kragen ihres Mantels hing ein langes, schwarzes Haar. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Stirn. Dann drehte sie sich um und ging. Eine Weile hörte er, wie ihre Schritte in der Gasse davonklapperten und langsam leiser wurden. Auf dem Boden direkt unter der Glühbirne lag der tote Falter. Franz bückte sich, hob ihn mit den Fingerspitzen vom Boden und wickelte ihn behutsam in ein Taschentuch.
    (Karte mit prächtig blühendem Rosendurcheinander und drei schneeweißen Tauben im Stadtpark)
    Liebe Mama,
    gestern hab ich es aus bestimmten Gründen nicht mehr ausgehalten und bin zum Westbahnhof wegen einer Karte nach Timelkam – ohne Rückfahrt. Die Frau hinterm Schalter hat nur gesagt zwei Schilling bitte, und sich dabei die Nägel lackiert. Und da ist etwas Komisches passiert: die Wurschtigkeit dieser Frau hat meine Sturheit gereizt. Und da hab ich ihr gesagt, sie soll sich ihre Karte sonstwohin stecken und bin wieder gegangen. So eine Wurschtigkeit darf sich nämlich nicht überall breitmachen, hab ich mir gedacht. Außerdem: Was wär dann mit der Trafik? Und mit dem Otto Trsnjek? Und mit dem Professor? Man hat ja mittlerweile eine Verantwortung, oder nicht?
    Dein Franz
    (Karte mit Entenfamilie im Vordergrund und rosig von der Morgensonne beschienenem Schafberg im Hintergrund)
    Lieber Franzl,
    ich glaube, ich kenne Deine »gewissen Gründe« ganz gut. Aber lass Dir eines sagen: Die Gründe von heute sind morgen schon die Gründe von gestern und spätestens übermorgen sind sie vergessen. Wahrscheinlich hätte mich vor Freude der Herztod erwischt, wenn Du auf einmal vorm Küchenfenster gestanden wärst. Trotzdem bin ich stolz auf Dich, weil du eben nicht gefahren bist. Ja, man hat eine Verantwortung! Vor allem für das eigene Gewissen. Und Heimkommen tut man sowieso noch früh genug. Es umarmt und drückt Dich so fest sie kann,
    Deine Mama
    »Ich bin ein Nichts. Ein wertloses Stück Dreck. Eine Fußmatte für die Abtritte der Menschheit. Ein Abfallkübel, bis über den Rand angefüllt mit schlechten Gedanken, schlechten Gefühlen und schlechten Träumen. So ist das. Obendrein bin ich unansehnlich. Unschön. Ungustiös. Und dick. Oh mein Gott, bin ich dick! Ein dickes, fettes Nilpferd. Ein plumpes, tonnenschweres Walross. Eine krankhaft ausgefressene Elefantenkuh. Das Einzige, was nach meinem Tode noch von mir übrig sein wird, ist ein teichgroßer Fettfleck. Ach, Herr Professor, wenn ich doch nur schon tot wäre! Wenn es doch nur endlich schon aus, vorbei und überstanden wäre!«
    Mrs. Buccleton brach wieder in Schluchzen aus. Ihr Kinn zitterte, ihre Wangen wackelten, ihr ganzer Körper begann zu beben. Tatsächlich war sie stark übergewichtig und auch ansonsten keine Schönheit. Das einzig Beachtenswerte an ihr waren, neben ihrer Körperfülle, die zumeist weit aufgerissenen, hellblauen Kinderaugen, die beständig bereit schienen, sich beim geringsten Anlass mit Tränen zu füllen. Mrs. Buccletons Hysterie war geradezu idealtypisch. Sie war Amerikanerin, schwerreich, fünfundvierzig Jahre alt und stammte aus einer sonnigen, aber öden Kleinstadt im Mittelwesten. Vom früh verstorbenen Vater verhätschelt, von ihrer Mutter nie gemocht, von ihren beiden Ehemännern betrogen und verlassen, hatte sie versucht, ihren lebenslangen Kummer unter Bergen von Schweinesülze, Pasteten und Kirschkuchen zu begraben. Seit sie die Ordination vor ein paar Monaten zum ersten Mal betreten hatte, waren ihre Fortschritte mäßig. Stets kam sie als aufrechte Dame von Welt, doch kaum hatte sie sich aus ihrer von einem weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Übergrößenschneider maßgefertigten Lodenjacke helfen lassen und sich vor Anstrengung leise pfeifend auf die Couch hinabgesenkt, verwandelte sie sich in ein hilfloses und weinerliches Kleinkind, das noch dazu mit seinen Tränen und seiner Schminke die teuren Polsterüberzüge verschmierte. Seltsamerweise mochte Professor Freud sie

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