Der Trafikant / ebook (German Edition)
Beziehungsweise es war natürlich schon Anezka, nur eben in einem Indianerkostüm, mit Perücke und Feder und allem Drum und Dran. Und sie hat getanzt. Allerdings war das kein normaler Tanz. Es war ein ziemlich … aufregender Tanz.«
»Könntest du dich vielleicht etwas genauer ausdrücken?«
»Sie hat sich ausgezogen. Sie hat ihren Bauch, ihren Busen und ihren Hintern ins Scheinwerferlicht gehalten.«
»Und ich nehme an, das war das Schönste, das du in deinem Leben je gesehen hast?«
»Ja, das war es. Obwohl ich das ja alles schon gekannt habe. Das Fürchterliche daran ist nur, dass diesmal noch ein Haufen anderer Männer dabei war! Ich bin jedenfalls gegangen und hab mich vor dem Eingang auf eine Mülltonne gesetzt. Später ist sie auch rausgekommen. Allerdings nicht alleine. Monsieur de Caballé war bei ihr!«
»Heinzi?«
»Ja. Er hat ein Messer aus seiner Hose gezogen, hat sich aber gleich wieder beruhigt und mich in Frieden gelassen. Wir haben geredet, Anezka und ich, und sie hat mich währenddessen so kalt angesehen. Dafür hab ich sie gehasst. Gleichzeitig hat sie mir leidgetan. Weil sie vor diesen Männern ihren Hintern ins Licht halten muss. Ich selbst hab mir aber noch viel mehr leidgetan. Und da hab ich gegen die Tonne getreten und Anezka beleidigt, und sie hat mir einen Kuss gegeben und ist gegangen, und ein Falter ist vom Himmel gefallen und alles, alles, alles war vorbei.«
Der Professor schloss die Augen und nahm einen tiefen Zug von der Hoyo. Mit der anderen Hand fasste er sich ans Kinn und bewegte den Unterkiefer gegen den Druck seiner Finger vorsichtig nach beiden Seiten. Plötzlich ließ er seine Hand in den Schoß fallen und drehte den Kopf zu Franz.
»Liebst du sie?«
»Wie bitte, Herr Professor?«
»Liebst du dieses böhmische Pratermädel?«
»Ha!«, lachte Franz hell auf und schlug sich mit der Hand klatschend auf den Oberschenkel. Und gleich noch einmal hinterher: »Ha!« Aber natürlich!, wollte er sagen. Aber selbstverständlich! wollte er dem Professor mit einer plötzlich in ihm aufsteigenden, fast beängstigenden Fröhlichkeit ins Gesicht schreien, in den Volksgarten und in die ganze Welt hinausbrüllen. Ja, was war das überhaupt für eine Frage? Was sollte das denn, bitteschön, für eine überflüssige, idiotische, an den Haaren herbeigezogene und alles in allem völlig blödsinnige Frage sein! Natürlich liebte er sie! Selbstverständlich liebte er sie! Er liebte, liebte, liebte sie! Mehr als alles andere in der Welt! Mehr sogar als das eigene Herz und das eigene Blut und das eigene Leben! Ungefähr das und noch viel mehr wollte Franz dem Professor entgegenschreien. Doch merkwürdigerweise brachte er nichts davon heraus. Kein Wort. Keine Silbe. Stattdessen blieb er einfach stumm. Und auch ein weiteres Lachen, das ihn gerade eben noch im Hals gekitzelt hatte, war einfach stecken geblieben und löste sich jetzt nur langsam auf, wie eines dieser gelben Brausezuckerln, die die alte Frau Seidlmeier in ihrem winzigen Nußdorfer Lebensmittelgeschäft den Kindern manchmal zugesteckt hatte und die erst so schön britzelten im Mund, dann aber recht schnell nichts als verklebte Zähne und einen bitteren Nachgeschmack hinterließen. Franz ließ den Kopf sinken.
»Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Eigentlich war ich mir sicher. Aber jetzt weiß ich es nicht mehr.«
Freud nickte langsam. Wieder bemerkte Franz, wie zerbrechlich er war. Ein kleiner, eckiger Totenkopf, der nur noch wie durch ein Wunder auf dem dürren Hals zu balancieren schien. In seinem Bart hatten sich ein paar Ascheflöckchen verfangen. Am liebsten hätte Franz sich nach vorne gebeugt und sie eins nach dem anderen herausgezupft.
»Also gut«, sagte Freud. »Ich schlage vor, dass wir jetzt erst einmal die Begrifflichkeiten klären. Ich vermute, wenn wir von deiner Liebe sprechen, meinen wir in Wahrheit deine Libido.«
»Meine was?«
»Deine Libido. Das ist die Kraft, die Menschen ab einem gewissen Alter antreibt. Sie schafft ebenso viel Freude wie Leid und hat, etwas vereinfacht gesprochen, bei Männern ihren Sitz in der Hose.«
»Auch bei Ihnen?«
»Meine Libido ist längst überwunden«, seufzte der Professor.
Plötzlich raschelte es neben der Bank. Im nächsten Moment kam ein kleiner Vogel aus der Hecke geflattert und setzte sich direkt vor die Füße der beiden Männer in den Kies. Er hatte den Körperbau eines Sperlings, doch sein Gefieder sah aus wie gebleicht, mit einigen fahl-gelblichen Flecken
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