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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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an der Seite. Seine Augen waren rot. Eine Weile saß der Vogel reglos da, dann breitete er die Flügel aus, duckte sich und fing an, sich im Kies zu wälzen. Dabei wackelte er mit dem Schwanz und schüttelte sein Gefieder. Genauso plötzlich, wie er damit begonnen hatte, hörte er auch wieder auf. Mit zwei Hüpfern bewegte er sich auf die Bank zu, verharrte für einen Moment, flog schließlich auf und zog in einem weiten Bogen in Richtung Schottenring davon.
    »Jetzt sind sogar schon die Spatzen verrückt geworden«, sagte Franz und wischte mit dem Fuß über den Kies.
    »Das war der Pestvogel«, murmelte Freud. »Es heißt, dass er immer nur vor dem Ausbruch von Seuchen, Kriegen und anderen Katastrophen auftaucht.« Die Zigarre in seiner Hand knisterte. Ein leichter Wind war aufgekommen und rauschte in den Baumkronen.
    »Wird es denn eine Katastrophe geben, Herr Professor?«
    »Ja«, sagte Freud und blickte dem Pestvogel hinterher, der längst irgendwo hinter dem Burgtheater verschwunden war.
    »Herr Professor, ich glaube, ich bin ein riesengroßer Depp«, sagte Franz nach ein paar Augenblicken angestrengt nachdenklichen Schweigens. »Ein von hinten bis vorne verblödeter oberösterreichischer Schafsschädel.«
    »Gratuliere, die Einsicht ist die Hebamme der Besserung!«
    »Ich habe mich nämlich gerade gefragt, was meine dummen, kleinen Sorgen überhaupt für eine Berechtigung haben neben diesen ganzen verrückten Weltgeschehnissen.«
    »Ich glaube, da kann ich dich beruhigen. Erstens sind Sorgen in Bezug auf Frauen zwar meistens dumm, aber selten klein. Und zweitens könnte man die Frage auch andersrum stellen: Was hat dieses ganze verrückte Weltgeschehen überhaupt für eine Berechtigung neben deinen Sorgen?«
    »Sie machen sich lustig über mich, Herr Professor!«
    »Nein, das mache ich nicht!«, widersetzte Freud und erhob statt des Zeigefingers energisch seine Zigarre »Das derzeitige Weltgeschehen ist nichts weiter als ein Tumor, ein Geschwür, eine schwärende, stinkende Pestbeule, die bald platzen und ihren ekeligen Inhalt über die gesamte westliche Zivilisation entleeren wird. Das ist zugegeben etwas drastisch und bildhaft formuliert, nichtsdestotrotz aber die Wahrheit, mein junger Freund!«
    Franz spürte einen merkwürdigen Stolz in sich aufsteigen, der irgendwo hinter seiner Stirn zerplatzte und wie ein warmer Schauer in seinen Kopf hineinrieselte. Er war jetzt der Junge Freund des Professors.
    »Die Wahrheit …«, wiederholte er mit einem nachdenklichen Kopfwiegen. »Legen sich die Leute auf Ihre Couch, um solche Wahrheiten zu hören?«
    »Ach was«, sagte Freud und betrachtete mürrisch den kurzen Rest seiner Hoyo. »Würde man immer nur die Wahrheit sagen, wären die Ordinationen staubig und leer wie kleine Wüsten. Die Wahrheit spielt eine geringere Rolle, als man denkt. Das gilt für das Leben wie für die Analyse. Die Patienten erzählen, was ihnen einfällt, und ich höre zu. Manchmal ist es auch umgekehrt: Ich erzähle, was mir einfällt, und die Patienten hören zu. Wir reden und schweigen und schweigen und reden und ganz nebenbei erforschen wir gemeinsam die Nachtseite der Seele.«
    »Und wie stellen Sie das an?«
    »Wir tasten uns mühselig durch die Dunkelheit, um wenigstens hie und da auf etwas Brauchbares zu stoßen.«
    »Und dafür müssen sich die Leute hinlegen?«
    »Es ginge auch im Stehen, aber im Liegen ist es gemütlicher.«
    »Ich verstehe«, sagte Franz. »Das erinnert mich irgendwie an früher. Manchmal hab ich mich im Sommer mitten in der Nacht aus der Hütte geschlichen, um mit ein paar Freunden in den Wald zu gehen. Jeder hat eine Kerze dabeigehabt, und die Bäume haben geflackert wie riesige Geister. Eine Weile sind wir dann so im Dunkeln herumgestolpert, aber was wirklich Interessantes haben wir eigentlich nie getroffen. Manchmal ist einer auf eine Nacktschnecke getreten. Aber das war es dann auch schon, und wir sind wieder nach Hause gegangen.«
    »Ja, so war das«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. »Das waren noch andere Zeiten, damals hat man sich nur vor Bäumen gefürchtet. Aber was begegnet Ihnen und Ihren Patienten denn so im Dunkeln, Herr Professor?«
    »Im besten Falle Träume«, sagte Freud. Er legte den verbliebenen Zigarrenstumpen neben sich auf der Armlehne ab und sah zu, wie er ein letztes Mal aufglomm, bevor er endgültig erlosch. Vorsichtig nahm er die kleine Leiche und warf sie in den eben noch vom Parkwächter durchstocherten Mistkübel.
    »Aber

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