Der Trafikant / ebook (German Edition)
Zeitung aufgeschlagen, begannen sich die Buchstaben vom Papier abzuheben und in einem unverständlichen Durcheinander aufzulösen.
»Dann setz dich hin und höre zu!«, befahl der Trafikant. Franz unterbrach seine Arbeit, die darin bestand, die Zeitungen des Vortages aus den Regalen zu räumen und sie durch die aktuellen, nach frischer Druckerschwärze duftenden, zu ersetzen. Schnell stopfte er die Ausgabe des Bauernbündler , der wie fast alle Zeitungen in diesen Tagen einen beeindruckend abfotografierten Adolf Hitler auf dem Titelblatt trug, in die passende Stellage und ließ sich auf seinem Hocker nieder. Der Trafikant breitete die Reichspost vor sich aus und fing an zu lesen: »Feiger Anschlag vereitelt! Wie erst gestern bekannt wurde, konnte durch das mutige Eingreifen einiger Wiener und Wienerinnen ein hinterhältiger Anschlag auf die neue Geistesfreiheit unseres Reiches vereitelt werden …«
»Ha!«, rief Otto Trsnjek aus und schlug mit der flachen Hand auf die Verkaufstheke. »Hast du gehört: ›Neue Geistesfreiheit!‹« Noch einmal holte er aus, um seine Hand aufs Pult sausen zu lassen, beherrschte sich aber im letzten Moment und fuhr mit heiserer Stimme fort: »Der in gewissen Kreisen als ›Roter Egon‹ bekannte und berüchtigte Bolschewist und Arbeitslose Hubert Panstingl gelangte in den Abendstunden auf das Dach des von ihm bewohnten Mietshauses in der Schwarzspanierstraße. Dort konnte er ungestört zur Umsetzung seines Plans schreiten. Er entrollte ein offenbar eigenhändig hergestelltes Transparent, das mit seinen hier nicht wiederzugebenden Schmierereien auf verabscheuungswürdige Weise unser Reich, unser Volk und unsere hoffnungsfrohe Heimatstadt verunglimpfen sollte.«
Otto Trsnjek packte die Zeitung, hüpfte mit überraschender Behändigkeit hinter der Theke hervor, beugte sich zu Franz hinunter und brüllte ihm ins Gesicht: »Was bitteschön, soll denn an einer Heimatstadt, die ein derartig verlogenes und obendrein ungeschickt hingesudeltes Gestammel einer deutschtümeligen Drecksjournaille herausbringt, noch hoffnungsfroh sein!?«
Franz versuchte sich so klein wie möglich zu machen. »Hör dir an, wie es weitergeht!«, rief der Trafikant: »Nur dem Mut einiger schnell herangeeilten Hausbewohner und Passanten war es zu verdanken, dass es dem gefährlichen Sonderling nicht gelang, seine Attacke gegen das Wiener Bürgertum länger als nötig vorzutragen. Im vollen Bewusstsein der großen Gefahr, der sie sich aussetzten, bestiegen die Männer und Frauen das Dach, traten vor den verwirrten Attentäter und ersuchten ihn um die sofortige Aushändigung des besagten Transparents. Der feige Kommunist Panstingl dachte jedoch gar nicht daran, von seinem Vorhaben abzulassen, baute sich stattdessen herausfordernd vor den einfachen Leuten auf und bedrohte sie. Ob dabei auch eine Waffe im Spiel war, konnte bis Redaktionsschluss nicht geklärt werden, ist aber nach Aussagen der Betroffenen mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen.«
»Ha!«, schrie Otto Trsnjek jetzt wieder auf. »Eine Waffe! Der Rote Egon hat sich doch die Butter lieber mit den Fingern aufs Brot geschmiert, als ein Messer anzurühren!« Mittlerweile war sein Gesicht schweißnass und dunkelrot angelaufen. Mit dem ausgefaserten Ärmel seiner Wollweste wischte er sich über die Stirn und fuhr fort: »Bei seinem brutalen Angriffsversuch scheint der Täter jedoch das Gleichgewicht verloren zu haben und stürzte über die Dachkante in die Tiefe. Glücklicherweise wurde beim Aufprall auf das Trottoir niemand verletzt. Der Täter ist tot, und das schändliche Transparent konnte geborgen und vernichtet werden!«
Der Trafikant stand leicht wankend da und starrte für einen Moment auf die Zeitung in seinen Händen. Plötzlich lief ein Schauder durch seinen Körper. Mit raschen Bewegungen zerriss er die Blätter in immer kleinere Fetzen, die um ihn herum langsam zu Boden trudelten. Als er fertig war, ließ er langsam die Hände sinken. Seine Weste war verrutscht und hing ihm schief von den Schultern. Unter den leichten Bewegungen seines Beines knarrte leise der Schuh.
»Weißt du, was auf dem Transparent geschrieben war?«, flüsterte er. Franz schüttelte stumm den Kopf. »DIE FREIHEIT EINES VOLKES BRAUCHT DIE FREIHEIT SEINER HERZEN. ES LEBE DIE FREIHEIT! ES LEBE UNSER VOLK! ES LEBE ÖSTERREICH!«
Otto Trsnjeks Schuh hatte aufgehört zu knarren, er stand jetzt still. Doch schon im nächsten Augenblick löste er sich aus der Erstarrung, hüpfte
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