Der Trafikant / ebook (German Edition)
saß der Rote Egon in seiner Souterrainwohnung in der Schwarzspanierstraße und lauschte, tief über sein Radio gebeugt, der Stimme Kurt Schuschniggs, aus der alle Widerstandskraft gewichen war. Es war die letzte Rede des Kanzlers an das Volk, das schon längst nicht mehr seines war. Von Hitlers massiven Gewaltandrohungen gezwungen, sagte er die Volksabstimmung für ein freies Österreich ab und gab seinen Rücktritt bekannt. Um bei der nun schon fast sicheren Grenzüberquerung der deutschen Truppen kein Blutbad zu provozieren, hatte er das Bundesheer angewiesen, keine Gegenwehr zu leisten. Er schloss die Ansprache mit den Worten: »So nehme ich denn in dieser Stunde Abschied vom österreichischen Volke mit einem Gruß, der tief aus meinem Herzen kommt: Gott schütze Österreich!« Kaum hatte er seine Rede beendet, ging auf den Straßen ein haltloses Gebrüll los. »Ein Volk! Ein Reich! Ein Führer!«, »Juda verrecke!« oder einfach nur unartikuliertes Schreien, Singen und Heulen. Der Rote Egon schaltete das Radio aus. Durch das staubtrübe Fensterchen, das direkt auf den Gehsteig hinausging, sah er die Beine der aufgescheuchten Wiener und Wienerinnen vorbeihasten, laufen, rennen. Er stand auf und trat zu seinem Kleiderkasten hinüber. Für einen Moment betrachtete er seine hagere Gestalt im Spiegelbild der angedunkelten Glastür, zupfte seinen Krawattenknopf zurecht und zog mit ein bisschen Spucke auf der Zeigefingerspitze seine linke Augenbraue nach. Dann öffnete er den Kasten, holte eine zu einem dicken Ballen zusammengerollte Stoffbahn sowie einen Hammer und ein paar Nägel heraus und verließ seine Wohnung, ohne abzuschließen. Im Stiegenhaus begegneten ihm die beiden Buben des Straßenbahnerehepaars aus dem zweiten Stock. Ihre kurzen Hosen schlackerten über den Knien, während sie mit spitzen Schreien auf die Straße hinausstürzten. Ein wenig außer Atem stieg der Rote Egon bis in den letzten Stock hinauf, gelangte über eine niedrige Tür auf den Dachboden, wo er mit der Fußspitze an einen leblosen Taubenkörper stieß. Er unterdrückte ein kleines Ekelgefühl und kletterte über eine Holzleiter durch eine Luke aufs Dach. Eine staubige Windböe schlug ihm ins Gesicht, und für einen Moment musste er die Augen schließen. Der Straßenlärm wogte gedämpft herauf, die einzelnen Stimmen von zehntausenden Wiener Bürgern vereinigten sich zu einem beständig an- und abschwellenden Ton, einer Art sirenenhaftem Heulen, unter dem die Stadt zu vibrieren schien. Vorsichtig ging er über die leichte Schräge bis ganz nach vorne an den Dachrand und setzte sich. Mit wenigen Hammerschlägen befestigte er ein Ende der Stoffbahn am geteerten Dachbelag, anschließend ließ er die Rolle einfach über die Regenrinne gleiten und hörte zufrieden, wie unter ihm die fünf Meter Stoff gegen die Hauswand und gegen das Dachgeschossfenster der unlängst verstorbenen Frau Hinterberger klatschten. Er steckte den Hammer und die restlichen Nägel sorgfältig in die Innentasche seines Sakkos, rutschte noch ein bisschen weiter nach vorne, schob seine Beine über die Dachkante und ließ sie über dem Gebrause der Schwarzspanierstraße baumeln. Aus einem offenen Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite drang der Duft von gebratenem Fleisch. Auf einem Schornstein hockten zwei Tauben. Hin und wieder richtete sich eine von ihnen auf und trippelte kurz im Kreis, während ihr Gefieder vom Wind zu einem luftigen Federnbausch aufgerichtet wurde. Der Rote Egon holte ein zerknittertes Päckchen Filterlose aus seiner Hosentasche, nahm eine heraus, legte sie sich auf die offene Handfläche und betrachtete sie eine Weile. Dann steckte er sie in den Mund und zündete sie an. Er inhalierte tief und mit geschlossenen Augen. Als nach genau sieben Zügen die Dachluke aufflog und drei Männer und eine Frau mit Hakenkreuzbinden, kurzen Totschlägern und mit vor Mordlust verzerrten Gesichtern aufs Dach gekrochen kamen, drehte er sich nicht einmal um. Er verlagerte sein Gewicht nach vorne, schnippte die Filterlose in die Tiefe und stürzte ihr hinterher.
»Hast du das gelesen?«, fragte Otto Trsnjek düster und schwenkte die Morgenausgabe der Reichspost über seinem Kopf. Franz schüttelte den Kopf. Er war in den vergangenen Tagen kaum zum Zeitunglesen gekommen, beziehungsweise hatte sich nicht sonderlich darum bemüht. Die Geschehnisse der letzten Zeit schwirrten wie ein Schwarm aufgeschreckter Fliegen in seinem Kopf herum, und kaum hatte er eine
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