Der Trafikant / ebook (German Edition)
Verbrechen sein soll, dann will ich, bitteschön, auch dafür geradestehen!«
»Halt deine blöde Goschn, du Trottel!«, presste der Trafikant hervor.
»Aber wieso denn?«, sagte der Verhärmte freundlich »Soll er doch ein bisserl reden, der Burschi! Wie heißt er denn überhaupt?«
»Mit Verlaub, ich bin kein Burschi, und heißen tu ich Franz Huchel!«
Der Verhärmte verschränkte seine Hände auf den Rücken und bewegte sich mit zwei, drei schleichenden Schritten auf Franz zu. »Ach so? Na dann sagen S’ halt, was Sie zu sagen haben, Herr Huchel!«
»Franzl …« Der Trafikant hatte erneut seinen Kopf gehoben. Die Schmerzen verzerrten ihm das Gesicht, und sein Blick irrte ein paar Sekunden lang zwischen den Zigarrenkisten in den Regalen herum, ehe er Franz fand. »Du bist mein Lehrbub … und obendrein ein Trottel. Und deswegen machst du jetzt genau das, was ich dir sage: Setz dich wieder hin und halt deinen blöden Mund!« Jetzt erst sah Franz die dünne Blutspur, die ihm übers Kinn lief, ein zartes Rinnsal, kaum breiter als ein Faden. Und auf einmal sah er auch die Verzweiflung in seinen Augen. Wie ein Schleier, dachte Franz, wie ein hauchzarter, dunkler Schleier. Und in diesem Moment war ihm alles klar. Für den Bruchteil einer Sekunde öffnete sich ein Fenster in die Zukunft, durch das die weiße Angst zu ihm hereinwehte, zu ihm, diesem kleinen, dummen, machtlosen Buben aus dem Salzkammergut. Mit einem unterdrückten Schluchzen ließ er sich auf die Knie fallen, umfasste mit beiden Armen den Nacken des Trafikanten und drückte seinen Körper an sich. »Lass mich, Franzl!«, flüsterte Otto Trsnjek heiser in Franz’ Haare hinein »Bitte, lass mich!«
Nachdem sie den Trafikanten auf den Rücksitz verfrachtet hatten und der Wagen nach mehreren Startversuchen mit knallenden Fehlzündungen die Währingerstraße hinaufgefahren und in die Boltzmanngasse eingebogen war, blieb Franz noch eine Weile vor der Trafik stehen. Es hatte leicht zu nieseln angefangen, ein warmer Frühlingssprühregen, unter dem das Straßenpflaster zu duften begann. Irgendwo, weit hinter irgendwelchen Dächern, war jetzt bestimmt ein Regenbogen zu sehen. Der Trafikant hatte nicht mehr geschrien und nichts mehr gesagt, widerstandslos hatte er sich abführen lassen und war, gestützt von den grauen Männern, zum Wagen gehüpft. Franz war noch einmal zurückgelaufen, um die Krücken zu holen, doch als er damit wieder herauskam, waren sie schon abgefahren. Nun lehnten sie wie zwei alte Stecken neben dem Eingang, nutzlos und schief. An den Scheiben der Fleischerei Roßhuber lief das Regenwasser in dünnen Bächen hinab. Dahinter säbelte die Silhouette des Fleischermeisters an einer Hinterhaxe herum. Den Abtransport des Trafikanten hatte er an seiner Eingangstür mit vor der Blutschürze verschränkten Armen und einem gekräuselten Lächeln beobachtet. Als der Wagen endgültig verschwunden war, hatte er mit einem kurz hervorgestoßenen Lachen seinen Kopf geschüttelt und war wieder hineingegangen. Franz stand immer noch da und rührte sich nicht. Das wäre es ja vielleicht, dachte er, einfach so stehen bleiben und sich nicht mehr bewegen. Dann würde die Zeit an einem vorbeitreiben, und man müsste nicht mehr mitschwimmen oder dagegen anstrampeln. Passanten eilten blicklos vorüber. Irgendwo plärrte ein Kind. Von den Beeten um die Votivkirche trillerten die Amseln herüber. Auf einem Fenstersims über dem Installationsbüro Veithammer flatterten für einen Moment zwei Tauben auf, ehe sie sich wieder in ihre Fensterecke zurückdrängten. Eine Windböe wehte Franz einen Sprühschleier ins Gesicht. Eigentlich angenehm, dachte er, schloss die Augen und wünschte sich, sie nie wieder zu öffnen. Da hörte er, wie ihn jemand von hinten mit dünner Stimme anhüstelte: »Interessiert sich hier noch irgendjemand für die Kundschaft, oder muss man sich vielleicht selbst bedienen?« Es war der Juristikar Kollerer. In seinen dicken Brillengläsern konnte Franz sich doppelt gespiegelt sehen, mit den beiden im dunstigen Nieselregen verschwommenen Votivkirchenspitzen im Hintergrund.
»Die Trafik hat selbstverständlich geöffnet, Herr Juristikar!«, sagte Franz. »Wie immer für Sie den Wienerwaldboten , den Bauernbündler und einen Langen Heinrich ?«
Beim Glasermeister Staufinger bestellte Franz neue Scheiben, die dieser auch prompt lieferte und passgenau einsetzte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fiel mehr als nur schummriges Dämmerlicht in die
Weitere Kostenlose Bücher