Der Trafikant / ebook (German Edition)
aufrecht im Bett und hielt den Atem an. Ein Lärm hatte ihn in die Wirklichkeit zurückgerüttelt, ein Krachen und Splittern, das die Nacht zu zerreißen schien. Dann wieder Stille. Franz sprang auf und rannte in den Verkaufsraum hinaus. Vor ihm, im fahlen Frühmorgenlicht, herrschte ein unglaubliches Chaos. Die Auslage war eingeschlagen, die Tür hing schief in ihren Angeln, von den Rahmen ragten lange Splitter in den Raum. Der Boden war übersät von Glasstückchen, zwei umgekippte Zeitungsständer lagen quer übereinander, überall verstreut waren Zeitungen, Zigarrenkisten, Tabakschachteln, offene Bleistiftdosen und einzelne Zigaretten. Draußen auf dem Gehsteig bauschten sich lose Zeitungsseiten und wanderten zur anderen Straßenseite hinüber wie leise raschelnde Geister. Franz tat einen zögerlichen Schritt. Unter seinen ledernen Hausschuhen, die ihm der Trafikant vor einiger Zeit gegen acht unbezahlte Überstunden überlassen hatte, knirschte das Glas. Vom Türrahmen tropfte eine zähe Flüssigkeit und sammelte sich am Boden zu einem glänzenden Fleck. Und dann sah er dieses Etwas auf der Verkaufstheke. Ein schwarzes Ding, ein dunkler Körper, ein nasser Haufen, der sich über die Theke ausbreitete. Für einen Moment schien es ihm, als ob es atmete, sich ganz langsam hob und senkte und wieder hob. Ein unangenehmer Geruch ging davon aus, ranzig, süß, aber auch ein bisschen säuerlich. Es war der Geruch von altem Fleisch, von Blut und Scheiße. Vorsichtig beugte er sich näher heran. Die Atembewegungen waren natürlich Einbildung gewesen. Auf der Theke lagen die Innereien eines oder mehrerer großer Tiere. Labbrige Gewebefetzen, glänzende Fettbrocken und das pralle, von einem Netz feiner Adern durchzogene Darmgekröse. Als Franz einen Schritt zurücktrat, knackste etwas unter seinem Fuß. Zwischen den Glasstücken lag ein abgeschlagener Hühnerkopf und blickte mit bläulichen, toten Augen zu ihm herauf.
Als Otto Trsnjek um sechs Uhr morgens pünktlich zur Ladenöffnung kam, sagte er kein Wort. Schweigend betrachtete er die Angelegenheit: den über den Eingang schief hingeschmierten Schriftzug HIER KAUFT DER JUD! , den kübelweise ausgekippten Dreck, die Scherben, das Blut, die Hühnerköpfe, den stinkenden Gedärmehaufen auf der Verkaufstheke und seinen Lehrling Franz, der zusammengesunken auf dem Hocker in der fensterlosen Auslage saß und aufs Pflaster hinausstarrte. Lange stand er einfach nur so da, unbeweglich und stumm. Schließlich öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, aber mehr als ein kleiner Ton, kaum lauter als das Platzen eines Spuckebläschens, kam dabei nicht heraus. Also machte er sich an die Arbeit.
Zusammen fegten sie das Glas vom Boden, stopften die Innereien und die Hühnerköpfe in große Leinensäcke, die sich schnell mit Blut vollsogen. Sie schrubbten den Gehsteig, die Wände, die Dielen und Regale und packten die schmutzigen, aufgeweichten, zerbrochenen oder zerbröselten Zigarren und Zigaretten in einen Karton und deponierten den Haufen neben einem Mülltonnengrüppchen im Hinterhof. Anschließend zogen sie vorsichtig die letzten Splitter aus dem Auslagenrahmen, hängten die Tür aus, klopften die Scharniere gerade, hängten die Tür wieder ein und schrubbten noch einmal mit Essig und einem rosaroten, giftig riechenden Pulver über Dielen, Regale und Theke. Als sie nach ein paar Stunden mit dem Putzen fertig waren, stemmte der Trafikant die Krücken nebeneinander in den Boden, legte seinen Beinstumpf sorgfältig auf den Griffen ab und atmete tief durch. »Zum Glasermeister gehen wir später«, sagte er dann, »jetzt holst du uns erst einmal zwei Bier!«
Sie tranken das Bier aus der Flasche, schweigend, langsam und mit kleinen Schlucken, der Trafikant auf seinem Platz hinter der Theke, Franz auf seinem Hocker. Es war ein steirisches Bier, dunkel und herb. Mittlerweile war es Nachmittag geworden, auf der Straße hasteten die Passanten vorbei, nur wenige beachteten die Trafik, kaum jemand hielt an, um einen Blick durch die scheibenlose Auslage ins Innere zu werfen. Einmal blieb ein ausgemergelter Hund stehen und schnüffelte am Eingang herum, wurde aber schnell von seinem Herrchen an die Leine genommen und weggezerrt. Auf der anderen Straßenseite ging eilig Frau Dr. Dr. Heinzl vorüber. Sie schien sehr auf ihren Weg konzentriert, hatte jedenfalls keinen Blick für die Trafik. Ein ältlicher Polizist steckte seinen Kopf zur Tür herein, sah sich kurz um, hob wortlos seine Hand zum
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