Der Trafikant / ebook (German Edition)
Trafik. Die Straßenhelligkeit drang in jeden Winkel und ließ die Farben auf den Deckeln der Zigarrenkisten in neuer Frische und ungewohnter Buntheit erstrahlen. Allerdings waren jetzt auch die Spinnweben und die bräunlichen Feuchtigkeitsflecken an der Decke zu sehen. Franz kaufte einen Kübel weißer Farbe, lieh sich von der Installateursgattin Frau Veithammer eine Leiter, eine Malerschürze und einen großen Rosshaarpinsel und begann die Decke zu streichen. Als er damit fertig war, strich er die Wände und die Stuhlleisten, danach die Regale, die Schreibwarenvitrine, den Kleinwarenkasten, das Pfeifenzubehörschränkchen, die Verkaufsthekenbeine und schließlich den Tür- und den Auslagenrahmen. Mit dem letzten bisschen Farbe besserte er die kleinen Lackabsplitterungen an den Schubladengriffknöpfen aus und tupfte schließlich einen winzigen weißen Punkt an den Eingangstürknauf, einfach so, weil es ihm Spaß machte und irgendwie schön und freundlich und künstlerisch aussah. Hinter einem Stapel mit Liebesromanheftchen für die gepflegte Frau fand er Otto Trsnjeks fein gerahmte, etwas angestaubte Lesebrille. Er reinigte sie mit ein bisschen Spucke und seinem Hemdsärmel, wickelte sie in Zeitungspapier und verstaute sie sorgfältig unter der Theke. Er füllte die Tinte auf, tauchte die Füllfederspitzen in ein Wasserbad, spitzte die Bleistifte und glättete die Eselsohren im Buchhaltungsordner. An der Eingangstür stellte er sich auf die Zehenspitzen und putzte und rieb und ribbelte solange an den Glöckchen herum, bis sie glänzten wie Christbaumschmuck. Auf ein Stück Papppapier malte er in dicken, roten Lettern die Worte: SEHR VEREHRTE KUNDEN, DIE TABAKTRAFIK TRSNJEK BLEIBT GEÖFFNET – TRETEN SIE EIN, SIE WERDEN BEDIENT! und klebte das Schild in Augenhöhe von innen an die Tür. Er ging zur Frau Veithammer hinüber, um ihr die Leiter, den Pinsel, die Schürze sowie eine schnell gerupfte, leuchtendgelbe Votivkirchenbeetblume zu bringen, wusch sich hernach die Farbe von den Händen und den Staub aus den Haaren und ließ sich schlussendlich müde und nach Kernseife duftend in Otto Trsnjeks Sessel sinken. Ein paar Augenblicke saß er so da und hörte dem ledrigen Knarren unter seinem Hintern zu, dann holte er ein schönes, großes, kariertes Blatt Papier aus der Schublade und begann zu schreiben:
Liebe Mama,
das ist mein erster Brief an Dich. Und eigentlich nicht nur an Dich, es ist überhaupt mein erster. Was ich Dir nämlich alles schreiben will, passt gar nicht auf eine einzige Karte. Wobei ich im Moment schon wieder gar nicht mehr weiß, was genau ich eigentlich habe erzählen wollen. Und das ist jetzt wiederum typisch. In letzter Zeit funktioniert mein Kopf nicht mehr so, wie er soll. Als ob ihn jemand zwischen seine großen Hände genommen und ordentlich durchgeschüttelt hätte, so fühlt sich das an. Deswegen also erst einmal der Reihe nach und in aller Ruhe und von vorne: Bei uns in Wien ist es sehr schön. Nach dem langen Winter kommt der Frühling aus allen Löchern und Ritzen hervorgekrochen. Überall blüht irgendetwas. Die Parks sehen fast schon aus wie auf den Ansichtskarten, und aus jedem liegengebliebenen Pferdeapfel sprießt ein Maiglöckerl. Die Leute sind ganz verrückt, rennen herum wie kopflose Hendln und kennen sich nicht aus. Wenn Du mich fragst, liegt das nicht nur am Frühling, sondern vor allem an der Politik. Es sind komische Zeiten gerade. Oder vielleicht waren die Zeiten immer schon komisch, und ich habe es nur nicht bemerkt. Bis vor Kurzem war ich ja noch ein Kind. Und jetzt bin ich noch kein Mann. Darin liegt die ganze Misere. Und damit sind wir auch schon beim nächsten Thema angelangt: mit dem Mädelchen (ich habe Dir ja geschrieben!) ist es erst einmal oder endgültig doch nichts geworden. Frag nicht warum, es ist halt so. Vielleicht ist die Liebe nichts für mich. Vielleicht bin ich nichts für die Liebe. Ich weiß es nicht. Weißt Du es vielleicht? Weißt Du, ob ich zur Liebe tauge? Weißt Du, was die Liebe ist? Weißt Du überhaupt irgendetwas über die Liebe? Ehrlich gesagt, fühlt es sich ziemlich komisch an, die eigene Mutter solche Sachen zu fragen. Irgendwie genierlich. Aber auf die Entfernung geht es. Jedenfalls bin ich gespannt, was Du sagst. Übrigens und apropos Entfernung: Du musst mir unbedingt vom See schreiben. Die Karten sind zwar schön, aber Bilder sind eben nur Bilder und können schwindeln. Genauso wie diese überschminkten Titelblattgesichter in der
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